Schatten der Rechtfertigungslehre – Kirchenhistoriker Kaufmann nennt Antisemitismus „genuines Luthererbe“

Interview mit dem Göttinger Kirchenhistoriker Thomas Kaufmann

Brennende Synagoge in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938
(Foto: epd-bild/Keystone)

(epd): Vor genau 500 Jahren, am 5. August 1514, äußerte sich Martin Luther erstmals brieflich über die Juden. Luthers Blick auf das Volk der Bibel sei von Anfang an negativ gewesen, erläutert der Göttinger Kirchenhistoriker Thomas Kaufmann im Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst (epd). Der Judenhass des Reformators, der für Ausweisungen warb und Synagogen brennen sehen wollte, belastet die evangelische Kirche bis heute. Kaufmann, Autor des demnächst erscheinenden Buches „Luthers Juden“, schildert Hintergründe und Folgen dieser fatalen Beziehungsgeschichte.

epd: Herr Professor Kaufmann, welche Vorstellung hatte Martin Luther in den Jahren unmittelbar vor der Reformation vom Volk der Bibel?

Thomas Kaufmann: In den frühesten Erwähnungen, etwa in der ersten Psalmenvorlesung, ist sein Judenbild bereits ausgesprochen negativ. Luther sieht die Juden in der Perspektive des Apostels Paulus als Repräsentanten der Gottesfeindschaft schlechthin. Dieses Motiv hält er bis zu seinem Lebensende durch. Es ist ganz von der Ansicht geprägt, die Juden verträten eine Werkgerechtigkeit, die im Gegensatz zur Glaubensgerechtigkeit im Sinne des Römerbriefes steht.

Luthers Schrift „Dass Jesus Christus ein geborener Jude sei“ aus dem Jahr 1523 gilt als positive Wendung. In ihr ist von Missionierbarkeit die Rede, es herrscht nicht die Sicht des „verstockten Juden“ vor.

Kaufmann: Er rechnet zu dieser Zeit in der Tat mit der Möglichkeit nennenswerter Bekehrungen. Grundgedanke der Schrift ist, dass die Juden endlich zum Glauben ihrer Väter zurückfinden sollten. Christus ist den Juden im Alten Testament verheißen, im Zuge der Reformation und der Neuentdeckung des Evangeliums können sie diese Botschaft in neuer Weise erkennen.

Was Luther schreibt, ist natürlich auch geprägt von massiver Kritik an der Papstkirche, die es seines Erachtens nicht vermocht hat, den Juden das Evangelium nahezubringen. In judenpolitischer Hinsicht ist die Schrift von 1523 ein außerordentlich bemerkenswertes Dokument, denn zum ersten Mal wird hier ohne prinzipielle Einschränkung einem friedlichen Nebeneinander von Juden und Christen das Wort geredet. Grundsätzlich ist die Frühzeit der Reformation von einer Offenheit geprägt, die sich aus einer apokalyptischen Umbrucherfahrung erklärt und sich im Zuge der folgenden Jahrzehnte nach und nach verliert.

Ist Luthers Judenbild die Schattenseite seines Rechtfertigungsglaubens?

Kaufmann: Das würde ich in der Tat sagen. Dieses Motiv der Judenfeindschaft wegen Werkgerechtigkeit hält sich durch. Um den Sachverhalt aber historisch angemessen zu kontextualisieren, muss man immer im Blick haben, dass für Luther die Papstkirche oder die „Türken“ in derselben Weise Repräsentanten der Werkheiligkeit sind. Die Juden sind nur ein Spezialfall dieses breiten religiösen Missverständnisses, dass die Menschen aus eigenen Werken von Gott gerechtfertigt sein wollen.

Thomas Kaufmann
Thomas Kaufmann (Foto: epd-bild/privat)

Wie stark war Luthers Haltung zu den Juden von persönlichen Begegnungen geprägt?

Kaufmann: Das ist relativ schwierig. In meinem Buch „Luthers Juden“, das im Herbst erscheint, versuche ich, sämtliche Nachrichten hinsichtlich persönlicher Begegnungen zu gewichten. Es hat zumindest ein einschneidendes Treffen gegeben, das von Luther immer wieder erinnert wurde. Zwei oder drei Rabbiner besuchten ihn in Wittenberg, um das Jahr 1525 herum. Mit ihnen führte er ein fatal verlaufendes Gespräch über Jesaja 7 und die wortwörtlich oder bildlich zu verstehende Jungfräulichkeit Marias.

Am Ende überreichte ihnen der Reformator einen Passierschein, verband das mit der Segensformel „im Namen Jesu“. Darauf soll einer der Rabbiner gesagt haben: Was hast du immer mit diesem Gehenkten? Das war für Luther eine Schmähung seines Herrn. Darüber hinaus gibt es eine ganze Reihe von Hinweisen, dass Luther Angst vor einem jüdischen Giftmörder hatte, der ihm einmal brieflich angekündigt worden sein soll. Er hatte existenzielle, und pathologisch erscheinende, für ihn sehr reale Ängste vor einem solchen Anschlag, zumal Juden permanent als Giftmischer beargwöhnt wurden. Luther hatte sicherlich Anteil an diesen zeitgenössisch verbreiteten Vorurteilen.

1543 folgt die Schrift „Von den Juden und ihren Lügen“. Ist die Radikalität, von der sie geprägt ist, auch Folge der gescheiterten Judenmission?

Kaufmann: Dieses Dokument hat eine Reihe von Erfahrungen zur Voraussetzung. Zum einen haben sich die Bekehrungserwartungen nicht erfüllt. Dabei muss man ernsthaft darüber nachdenken, ob Luthers Enttäuschung auf seine persönliche Unduldsamkeit zurückzuführen ist oder ob es genuin in der reformatorischen Theologie liegende Verschärfungsmotive gibt. Zum anderen hat sich zwei Jahrzehnte nach den Anfängen der Reformation die Situation grundlegend geändert. Die judenpolitische Verantwortung lag nun in den protestantischen Händen, bei der reformatorischen Obrigkeit. Damit war die Argumentation, die Papstkirche habe im Umgang mit den Juden versagt, nicht mehr stichhaltig.

Welche theologische Grundhaltung vertritt der Reformator in dieser Schrift?

Kaufmann: Es wird häufig übersehen, dass er darin einen Zweifrontenkrieg führt – zum einen gegen die Juden, zum anderen gegen eine christliche Hebraistik, die die messianischen Weissagungen des Alten Testaments nach Luthers Überzeugung nicht angemessen auslegt. Im Hintergrund steht besonders die Auseinandersetzung mit dem Basler Professor Sebastian Münster, dem berühmtesten Hebraisten seiner Zeit.

Der Dialog, auf den Luther am Anfang und Ende seiner Schrift anspielt, ist wohl eine Schrift Münsters, die von der bisherigen Forschung nicht identifiziert worden ist. Das muss man als Kontext mitbedenken. „Von den Juden und ihren Lügen“ umfasst zu mehr als drei Vierteln exegetische Auslegungen alttestamentlicher Verse, die Luther messianisch deutet. Das expliziert er dann wortreich. Das ist sein Herzensanliegen in dieser Schrift.

Luther spricht davon, Synagogen niederzubrennen, Häuser einzureißen. Wie stark ist er da Kind seiner Zeit?

Kaufmann: Die von ihm angeregten judenpolitischen Maßnahmen sind ambivalent. Zum einen propagiert er als beste Lösung, die Juden außer Landes zu weisen. Vertreibungen von Juden, wie sie auch in Frankreich, Spanien oder England geschahen, waren zu Luthers Zeit ein gesamteuropäisches Phänomen. Von daher gab es ein gewachsenes, wir würden heute sagen: migrationspolitisches Problem durch eine stärkere Präsenz von Juden im Reich. Das muss man als historischen Hintergrund im Blick haben.

Häuser einzureißen und Synagogen anzuzünden, sind sozusagen die schlechtere Lösung – für den Fall, dass sich die Obrigkeiten nicht auf Ausweisungen einlassen. Was das besonders fatale Beispiel des Synagogenbrandes angeht: Ich habe lange gesucht und keinen Zeitgenossen gefunden, der das ebenfalls vorgeschlagen hätte. Das ist also genuines Luthererbe. Deshalb ist es so bedrückend, dass unter Berufung auf ihn am 9. November 1938 die sogenannte „Reichskristallnacht“ inszeniert wurde. Die Idee des Verbrennens hat alttestamentliche Strafakte zum Vorbild und war unter den brandschutztechnischen Bedingungen des 16. Jahrhunderts grotesk, ja überhaupt erst unter den Bedingungen des 20. Jahrhunderts realisierbar – zu Luthers Zeit wären mit den Synagogen ganze Städte oder Stadtteile in Flammen aufgegangen.

Die Ausweisung der Juden aus Luthers Heimatstadt Eisleben ein Jahr nach seinem Tod ist offenbar direkt auf den Reformator selbst zurückzuführen.

Kaufmann: Noch wenige Tage vor seinem Tod hat er in einer Predigt zur Austreibung der Juden aus der Grafschaft Mansfeld aufgerufen. Sie erfolgte dann 1547. Aus meiner Sicht ist das in der Tat eine Spätfolge dessen, was Luther predigte.


Das Gespräch führte Bernd Buchner