Käßmann: Luther ist „furchtbarer Zeuge“ für Judenfeindschaft

Reformationsbotschafterin unterstreicht Versagen der Kirche im Angesicht des Holocaust

Margot Käßmann
(Foto: epd-bild/Norbert Neetz)

Die Botschafterin der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) für das Reformationsjubiläum 2017, Margot Käßmann, hat erneut die Mitverantwortung Martin Luthers und der evangelischen Kirche für die deutsche Judenfeindschaft unterstrichen. Der Antijudaismus des Reformators habe ein fatales Erbe hinterlassen, sagte sie bei der Eröffnung der „School of Jewish Theology“ an der Universität Potsdam. Er sei ein „furchtbarer Zeuge“ für die Geschichte der christlichen Judenfeindschaft. Die Kirche habe in der NS-Zeit bis auf wenige Ausnahmen versagt, weil sie Juden nicht geschützt und sich dem Holocaust nicht vehement entgegengestellt habe.

Käßmann umschrieb in ihrer Rede die Wandlungen in Luthers Haltung zu den Juden. In seiner 1523 veröffentlichten Schrift „Dass Jesus Christus ein geborener Jude sei“ fänden sich für die damalige Zeit bemerkenswerte Ansichten. So habe der Reformator stereotype Vorwürfe gegen die Juden, etwa den des Wucherzinses, entschieden zurückgewiesen. Es sei vielmehr das lieblose Verhalten der Christen gewesen, das die Juden von der Bekehrung abgehalten habe. „Wir haben sie behandelt, als wären es Hunde“, zitierte Käßmann aus der Schrift. Luther habe in dem ihm eigenen drastischen Sprachduktus unterstrichen, auch er wäre an ihrer Stelle „eher eine Sau denn ein Christ geworden“.

Synagogen „mit Feuer anstecken“

Durch diese Schrift sei in jüdischen Kreisen die Hoffnung entstanden, es könne zu einem Neuanfang im Verhältnis zwischen Juden und Christen kommen, sagte die Reformationsbotschafterin. Doch zwei Jahrzehnte später habe Luther einen ganz anderen Ton angeschlagen. In der Schrift „Von den Juden und ihren Lügen“ von 1543 schlage er der Obrigkeit vor, dass sie jüdische Synagogen und Schulen „mit Feuer anstecken“, ihre Häuser „zerbrechen“ und die Juden „wie die Zigeuner in einen Stall tun“ solle. „Zudem sollten ihnen ihre Gebetbücher genommen werden, worin ,Abgötterei' gelehrt werde, ihren Rabbinern sollte verboten werden, zu unterrichten.“

Diese „unfassbaren Äußerungen“, so Käßmann, könnten weder mit Luthers Verbitterung erklärt noch durch den Zeitgeist des 16. Jahrhunderts gerechtfertigt werden. „Sie werfen auf ihn und die Reformation insgesamt einen Schatten und sollten die Kirche, die sich nach ihm benannte, auf einen entsetzlichen Irrweg führen.“ Das Pamphlet von 1543 habe oft als Rechtfertigung für Diskriminierung, Ausgrenzung und Mord gedient und sei in der NS-Zeit häufig nachgedruckt worden, unterstrich die ehemalige Bischöfin. Noch in den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen habe Julius Streicher gesagt: „Dr. Martin Luther säße sicher heute an meiner Stelle auf der Anklagebank“.

Abkehr vom Judenhass erst nach 1945

Erst nach dem Zweiten Weltkrieg habe die Kirche langsam begonnen, „den verhängnisvollen Weg des Antijudaismus zu verlassen“, erläuterte die frühere EKD-Ratsvorsitzende. Ein Prozess habe eingesetzt, "der Erschrecken über eigene Irrwege zutage treten ließ und Befangenheit auslöste“. Ihr Eindruck sei aber, so Käßmann, „dass immer öfter freie Begegnung möglich wird, die um das Vergangene, um Schuld ebenso wie um Opfererfahrung weiß, aber nicht dort verhaftet bleibt, sondern Wege ins Offene, in die Zukunft eines Dialogs auf Augenhöhe sucht“.

Mit dem Institut für jüdische Theologie sei der Ausgangspunkt für eine Begegnung der Religionen auf Augenhöhe geschaffen worden, sagte die Botschafterin. Dass sie zur Eröffnung des Instituts um eine Rede gebeten worden sei, wertete Käßmann als „beachtliches Zeichen von neuem, ja unbefangenem Miteinander“. Sie rief zugleich zur kritischen Auseinandersetzung mit religiösen Schriften auf. „Es geht nicht um Glauben allein aus Gehorsam, aus Konvention oder aus spirituellem Erleben“, so die Theologin. Notwendig sei ein gebildeter Glaube, „der verstehen will, nachfragen darf, auch was das Buch des christlichen Glaubens betrifft, die Bibel“.

50 Studierende eingeschrieben

Die „School of Jewish Theology“, die an der Philosophischen Fakultät der Universität Potsdam angesiedelt ist, hat ihren Lehrbetrieb Mitte Oktober aufgenommen und steht auch nichtjüdischen Studierenden offen. Derzeit sind dort rund 50 Frauen und Männer eingeschrieben. Etwa die Hälfte von ihnen strebt auch ein jüdisches geistliches Amt an. Das Institut arbeitet mit dem 1999 gegründeten liberalen und dem vor wenigen Tagen gegründeten konservativen Rabbinerseminar in Potsdam zusammen.