Wie die Utopie des Kapitalismus den Glauben verändert hat: Interview mit Birger Priddat Die Fragen stellte Nils Husmann

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(chrismon.de:) Bei Gott kriegen wir keinen Kredit, aber was wir uns geliehen haben, können wir wenigstens zurückzahlen. Ein Gespräch mit dem Wirtschaftswissenschaftler Birger Priddat über Kapitalismus, Erbsünde und soziale Gerechtigkeit.

Herr Priddat, ist Kapitalismus eine Religion?

Birger Priddat: Nein, aber der Kapitalismus hat etwas übernommen, was es vorher nur im Glauben gab – die Hoffnung auf ein besseres Leben. Nach der Aufklärung im 17. und 18. Jahrhundert erwarteten die Menschen diese Erlösung nicht mehr im Himmel, sondern auf Erden. Mit dem Kapitalismus gab es ein Versprechen auf Fortschritt und Wachstum. Das ging nur, weil der Kapitalismus sich noch etwas aus dem Glaubenssystem geliehen hat: die Schuld. So sehr wir die Ökonomie verdammen, weil sie einige Gruppen bevorteilt oder egoistische Motive belohnt: Sie ist doch human, weil sie Schuld in Schulden umzuwandeln vermag.

Wie geht das?

Priddat: Die christliche Erbsündenlehre sieht den Menschen in einer unaufhebbaren Schuld, nur Gottes Gnade kann ihn erlösen. Nun kann ich sagen: Meine Schuld bei Gott kann ich nicht begleichen, Schulden bei anderen schon.

Der Mensch hat immer Versuche unternommen, bei Gott etwas gutzumachen.

Priddat: Der Ablasshandel war ja Martin Luthers großes Thema. Viele Menschen glaubten: Je mehr Ablässe ich kaufe, desto kürzere Zeit bin ich im Fegefeuer. Der französische Historiker Jacques Le Goff hat nachgewiesen, dass die Fegefeuertheorie im 12. Jahrhundert etabliert wurde, um die schwierige finanzielle Situation der Kirche zu beheben. Wer die Erbsündenlehre ernst nimmt, kann sich sein Heil nicht kaufen. Er würde Gott gar nicht mehr demütig gegenübertreten.

Aber was hat die Schuld mit Schulden zu tun?

Priddat: In vorkapitalistischer Zeit hatten Kredite fast die Struktur der Schuld: Man war dem, der einem Geld gab, in einer unbedingten Weise verpflichtet. Konnte man kein Geld zurückgeben, dann andere Dienste – Ernteerträge, Land, Arbeitskraft. Das waren feudale Formen des Kredits, die dem Kreditnehmer nicht halfen, weil er in eine Schuldknechtschaft geriet.

Viele Menschen glaubten aber auch: Wenn ich anderen etwas gebe, vergibt Gott mir meine Schuld.

Priddat: Das war der Gedanke der Caritas, der Barmherzigkeit. Wer einem Armen etwas gibt, sammelt natürlich keine Kreditpunkte, um beim Jüngsten Gericht besser durchzukommen. Das ist kein Deal! Er folgt nur Jesus nach. Es geht immer um das Verhältnis von Gott und Geber: Ich gebe zwar jemandem, der arm ist. Aber eigentlich gebe ich Gott, und der gibt den Armen. Deswegen kommt es auch nicht darauf an, wie viel ich gebe. Ökonomisch betrachtet sind das vollkommen uneffiziente Handlungen. Wenn der heilige Martin seinen Mantel mittendurch teilt, hat ja keiner was davon, beide frieren. Die Barmherzigkeit ging oftmals an den Bedürf­nissen der Armen vorbei.

Warum?

Priddat: Wenn ich eigentlich Gott und nicht den Armen gebe, geht es nicht darum, was der Arme braucht. Kritiker monierten im 15. bis 17. Jahrhundert, dass es nicht nur von der Barmherzigkeit der ­Reichen abhängen könne, ob die Armen zu essen hätten. Die Versorgung der Armen wurde langsam auf Arbeit umgestellt. Arme konnten in Zuchthäusern wohnen und essen – gegen ­Arbeit. Wir würden das heute so nicht mehr billigen. Aber es war eine wichtige Neuerung.

Ein Systemwechsel?

Priddat: Caritas bedeutete: Der Reiche gibt den Armen, damit Gott ihm seine Schuld vergibt. Kapitalismus bedeutet: Der Reiche inves­tiert sein Kapital in Projekte, die Profit machen sollen. Zu Beginn des Kapitalismus waren das vor allem Investitionen in Arbeit. 80, 90 Prozent der Gelder waren nötig, um Arbeiter zu beschäftigen; das Wenigste floss in Maschinen. Und ganz langsam setzte sich die Auffassung durch: Das ist das neue, barmherzigere System! Die Menschen lungern nicht herum, sondern haben ein Einkommen. Das Problem war, dass dieses Einkommen nicht zum Überleben ausreichte. Dennoch wird in der Geschichte bald das "Recht auf Arbeit" geltend gemacht. Ende des 18. Jahrhundert stand es sogar im Landrecht Preußens, das Recht auf Arbeit.

Wer die sozialen Verhältnisse der Industrialisierung vor Augen hat, mag nicht von einem barmherzigen System sprechen.

Priddat: Der Kapitalismus war ja anfangs auch nur eine Utopie. Adam Smith, der britische Nationalökonom, ist ausgelacht worden.

Was störte seine Kritiker?

Priddat: Sie sagten, es werde nie ein System geben, in dem alle reich sind. Doch Smith war realistisch. In "Der Wohlstand der Nationen" beschreibt er 1776, dass die Profite der Unternehmer stärker steigen als die Einkommen der Beschäftigten. Aber immerhin, beides steigt! Das war ein Fortschritt: Die Menschen konnten die Hoffnung haben, dass sie, wenn sie arbeiten, für ihre Kinder eine Ausbildung bezahlen können,dass es ihren Kindern noch bessergehen wird. Die Hoffnung, durch eigenes Handeln rauszukommen aus der ewigen Armut – die hatte es vorher nicht gegeben.

Wann reichte es denn auch für die Arbeiter zum Wohlstand?

Priddat: Das begann, als im 19. Jahrhundert die naheliegenden marxis­tischen und gewerkschaftlichen Gedanken auf das Wirtschaftssystem einwirkten. Aber auch eine neue Sozialstaatsidee. Arbeiter konnten ihre Kinder zur Schule ­schicken, sie zogen in bessere Wohnungen. Der Lebensstandard stieg, auch wenn es viel Ungleichheit gab. Wir müssen das mit den Einkommensverhältnissen Anfang des 18. Jahrhundert vergleichen: 80 Prozent der Bevölkerung waren sehr arm, niemand würde heute in diesen Verhältnissen leben wollen.

Was haben Schuld und Schulden mit dieser Dynamik zu tun?

Priddat: Die Geschichte des Kapitalismus wäre nicht so geschrieben worden, wenn die Leute mit ihrem Eigenkapital hätten wirtschaften müssen. Das wäre viel zu wenig gewesen. Also gibt der eine dem anderen Geld, weil er glaubt, dass dieser andere das Geld produktiv vermehren – und zurückzahlen kann. Banken sind die anonymen Kapitalsammelstellen für diesen Transfer. Dabei ist Vertrauen wichtig. Die Bank vertraut darauf, dass ein Kreditnehmer am Markt erfolgreich sein kann. Der Witz ist: ­Kredit ist eine Art des Gebens und hat strukturell etwas mit ­Caritas zu tun. Die Schuld ist säkularisiert. Man steht in Schuld, hat also Schulden – aber nur, bis man sie zurückgezahlt hat.

Früher war unsere Welt hierarchisch – oben Gott, unten wir, die schuldigen Menschen. Im Kapitalismus können wir unsere Schulden begleichen. Aber Gott ist doch nicht weg!

Priddat: Unten der Mensch, oben Gott – das ist eine antike Vorstellung. Darin ist Gott, wie der Dichter Novalis es vor mehr als 200 Jahren beschrieb, der Haushalter des Universums, der oikosdespotes. Übrigens: Oikos ist der Ursprung des Wortes "Ökonomie". Unter dem oikosdespotes sind die Menschen keine Subjekte, ihr Leben ist vorherbestimmt. In der Neuzeit hat sich diese Vorstellung grundsätzlich geändert.

In welche Richtung?

Priddat: Das Gegenmodell ist die Polis, die Stadt. Die Gemeinschaft der Bürger, die tauschen und voneinander abhängig werden. Also brauchen wir Verfassungen, das Recht und Verträge. Rechtlich abgesichert und über das Geld bemessbar, können wir eine gemeinschaftliche Produktivität entfalten – und zwar horizontal! Wir gucken uns als Gleiche in die Augen und brauchen keine Herrscher mehr.

Mit weitreichenden Folgen für den Glauben.

Priddat: Von Natur aus sind alle Menschen gleich – vor Gott. Das war der Impuls des Naturrechts. Und wenn Sie das "vor Gott" auch noch streichen, sind die Menschen gleich. Dieser Gedanke war brisant. Bürger können den König absetzen. 1688 in England haben sie es fast geschafft, in der Glorious Revolution. Wer keinen politischen Herrscher mehr braucht, braucht auch keinen Glaubensherrscher. Gott wird dann als Despot so kritisch betrachtet wie der Monarch.

Welche Folgen hatte das?

Priddat: Die Ökonomie läuft auf das Materielle hin – die Seele bleibt in der Sphäre der Theologie. Der Glaube ist privat geworden, Gott ist nicht weg, aber er ordnet die Gesellschaft nicht mehr. Die Begriffe Glaube und Hoffnung richten sich aus auf die Erwartung von Wachstum, Beschleunigung und Gewinnsteigerung.

Die Utopie des Kapitalismus...

Priddat: ...die heute ihre Grenzen erfährt.

Aber in Asien wächst noch alles.

Priddat: Auch dort werden es die Menschen merken, wenn sie nicht mehr atmen können. Wir erfahren ökologische Grenzen. Die Geschichte ist nicht offen, sie ist an die Natur gebunden. Wie viel Energie haben wir? Wie viel Geld? Wir verschulden uns ja nur, weil wir glauben, dass das Wachstum uns später hilft, die Schulden ab­zahlen zu können. Aber was, wenn es kein Wachstum mehr gibt?

Die Finanzwirtschaft ist stark gewachsen, durch Spekulationen entsteht neues Geld. Es muss doch genug da sein für neue Kredite, die neues Wachstum schaffen.

Priddat: Es gibt viel Liquidität, aber die muss angelegt werden. Vieles in der Realwirtschaft hat nicht die Rendite, die es in der Finanzwirtschaft gibt. In der Finanzwirtschaft werden keine wirklichen Geschäfte mehr gemacht, sondern – wie im Kasino – Wettgeschäfte. Verglichen damit hat die Realwirtschaft schlechte ­Karten. Sie ist mühsam, Unternehmer brauchen Gelände, Arbeiter, sie müssen Steuern zahlen und Auflagen erfüllen. Ein Finanz­geschäft machen Sie mit drei Leuten und drei Laptops, am besten irgendwo am Strand. Dieses ganze dreckige Geschäft, die harte Arbeit in Fabriken, Werkstätten und auf Feldern, wird zum Mythos der Vergangenheit. Heute geht es um easy money, um arbeitslos erworbenes Geld. Das scheint das neue Glück zu sein.

Ist die Analogie von Schuld und Schulden auch auf Staats­schulden anwendbar?

Priddat: Das ist schwierig. Der Wohlfahrtsstaat gibt seit Jahrzehnten mehr aus, als er einnimmt. Das kann nur über Schulden finanziert werden. Wenn es Wachstum gibt, ist das für die Banken kein Problem, weil die Tilgung über das Wachstum gesichert ist. Aber wenn auch die Zinsen nicht bedient werden, wird es schwierig. Dem liegt ein Systemfehler zugrunde. Politiker sind zu kurz im Amt. Sie verschieben die Probleme auf morgen. Stattdessen haben wir die direkte Demo­kratie des Kapitals. Irgendwann werden Grenzen der Verschuldung erreicht, dann bricht das System zusammen.

Glauben wir noch an die Smith’sche Utopie des Kapitalismus, an das Wachstum, das uns auch von Schulden erlöst?

Priddat: Wir sind ein müder, alter Staat. Wachstum wie heute in China hatten wir in den fünfziger Jahren. Der Klimawandel kann Ausnahmen ermöglichen, weil wir neue Energiequellen erschließen. Wer diese Zukunftsmärkte besetzt, kann richtig profitieren. Aber ich glaube, der Kapitalismus hat seine erlösende Kraft verloren. Wir glauben nicht mehr, dass es mit ihm noch Lebensverbesserungen gibt, sondern denken nur daran, wie wir gut aus der nächsten Krise kommen.

Wie kann es weitergehen?

Priddat: In der Unklarheit gewinnt Religion wieder an Bedeutung, aber nicht immer innerhalb der Kirche, sondern auch in absurden ­Extremismen. Trotzdem: Jetzt ist die Chance für die Kirche, eine richtige Zeitdiagnose zu machen. Das Ende des Kapitalismus ­bedeutet auch die Auflösung des Wohlfahrtsstaates. Zwei Ideen werden neu aufkommen. Das Religiöse – und der Sozialismus. Der sozialistische Gedanke lagert in der Geschichte, unerledigt. In seiner neuen Ausprägung wird er fragen: Welche Gemeinschaften haben wir, wenn der Wohlfahrtsstaat sich auflöst? Die Antwort kann auch die Kirche wissen.


(Foto: privat)

Birger Priddat ist seit 2007 Professor für Politische Ökonomie an der Universität Witten/Herdecke. Seine Themen: Wirtschaftsethik, Geschichte der Ökonomie und Geld.