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Rowan Williams, der ehemalige Erzbischof von Canterbury, fasste es vor kurzem ganz treffend zusammen: „Die Würde des Menschen und der aufrechte Gang vor dem Mitgeschöpf ebenso wie vor unserem liebenden Schöpfer ist das größte Erbe der Reformation für unsere Gegenwart“.

Am Anfang der Reformation stand eben diese zeitlose Frage: Wofür soll der verantwortliche Christenmensch Einstehen und aus welcher Haltung leben? Martin Luther fand dafür eine Formel, die die Grundvoraussetzungen einer lebenswerten Gemeinschaft bis heute beschreibt: „Ein Christenmensch ist ein freier Herr über alle Dinge und niemand untertan. Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan“. 

Aus der unantastbaren Würde des einzelnen, selbstbestimmten und selbst urteilenden Menschen folgt notwendig sein Dienst an den Mitmenschen. Die Kurzform dafür lautet: aufrechter Gang und gebeugtes Knie. Jede und jeder ist aufgerufen sich einzubringen!

Wer selbst urteilen will bedarf eines geschärften Gewissens; er bedarf der Herzensbildung und des Diskurses mit den ihn umgebenden Menschen. Er muss sich – noch wichtiger – vor seiner Entscheidung klar darüber werden, woran er sich bindet und woran er sein Herz hängt. Menschen machen den Unterschied – nicht nur in der Reformationszeit, sondern auch heute und morgen.

Für diese Haltung liefert uns die Reformation ein Bild: Martin Luther vor dem Kaiser in Worms 1521. Der Volksmund kennt dafür die Kurzform „Hier stehe ich und kann nicht anders“. Dieses Einstehen für die im Glauben selbst gefundene Überzeugung, die man mit geradem Rücken und nach gründlicher Gewissensprüfung selbst unter Inkaufnahme von Nachteilen für die eigene Person bekennt – das ist nach wie vor die Ideallinie unserer Bürgergesellschaft. 

Diese Bürgergesellschaft beruht auf einer Teilhabe weiter Bevölkerungskreise an den Belangen ihres Gemeinwesens. Bis in die zweite Hälfte des 16. Jahrhunderts hinein fehlte dafür in Deutschland die elementarste Voraussetzung: dass man dieselbe Sprache spricht; dass man sich über Interessen, Ziele und Mittel mit seinem Nächsten zu verständigen weiß. Luthers Bibelübersetzung und seine übrigen Schriften haben unendlich viel für das Entstehen einer gemeinsamen deutschen Sprache getan; eine große Zahl seiner Wortschöpfungen ist uns im Deutsch des 21. Jahrhunderts bewahrt. Am Anfang war das Wort; und das Wort wurde durch die Reformation – deutsch.

Indem wir uns 2017 diese starken Wurzeln bewusst machen, ermöglichen wir zugleich Aussagen zu unserer Gegenwart und Zukunft, die uns alle angehen.


Stephan Dorgerloh war vom April 2011 bis zum April 2016 Kultusminister des Landes Sachsen-Anhalt und Vorsitzender des bundesweiten Lenkungsausschusses zur Vorbereitung des Reformationsjubiläums 2017.