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Standpunkt: Christina Aus der Au

Die Schweizer Theologin Christina Aus der Au. (Bild: © epd-bild / Jens Schulze)

Genau genommen feiern wir 2017 nicht 500 Jahre Reformation, sondern seit 500 Jahren Reformation! Und noch genauer genommen nicht erst seit 500 Jahren, sondern schon um einiges länger: Ende des 12. Jh. wurde von einem Lyoner Kaufmann eine Gemeinschaft religiöser Laien begründet, die Waldenser, die darauf bestanden, selbst die Bibel zu lesen. Anfangs des 13. Jh. gründete Franz von Assisi mit seinen Gefährten den Franziskanerorden in der Überzeugung, dass der Glaube die eigene Lebensführung prägen solle. Und anfangs des 15. Jh. setzte das Konstanzer Konzil die innerkirchliche Reform zumindest auf die Tagesordnung und berief sich dabei über kirchliche Hierarchien hinaus auf Christus. 

Selbst die Bibel lesen, das Evangelium in das Leben übersetzen und nur Christus als Haupt der Kirche anerkennen – das sind zentrale Inhalte des reformatorischen Glaubens. Dass es dabei vor, während und nach der Reformation immer wieder – und zum Teil blutige – Auseinandersetzungen über die konkrete Auslegung gab, ist Teil unseres reformatorischen Erbes. Nicht nur in Konstanz wurden Ketzer verbrannt, auch die Reformatoren verurteilten Andersdenkende. Wir streiten über unseren Glauben, dies allerdings im zunehmenden Bewusstsein, dass niemand das Wort Gottes alleine „hat“. Aber wir können und sollen es als Gemeinde gemeinsam lesen, beten, singen, bedenken und leben, in gottgegründetem Selbstvertrauen und in Respekt vor den Andersdenkenden.

Das Reformationsjubiläum gibt Gelegenheit, in all seinen Anlässen und Begegnungen diesen Glauben neu zu entdecken. Und ihn neu zu verantworten in der Sprache unserer Gesellschaft und im Angesicht unserer Probleme. Was bedeutet es, den biblischen Gott in einer multireligiösen Welt zu bezeugen? Was bedeutet es, das Evangelium der Befreiung in einer Welt der Kriege und Flüchtlingsströme zu verkünden? Und was bedeutet es, allein Jesus Christus als dem einen Wort Gottes zu folgen in einer Welt der wirtschaftlichen und politischen Sachzwänge? Hier sind wir gefordert – als ProtestantInnen zusammen mit den Freikirchen und den orthodoxen und katholischen Glaubensgeschwistern, im Bewusstsein unserer Unterschiede und im Glauben an den einen Gott, der uns hält! Dann geht die Reformation quer durch alle Kirchen hindurch weiter, und auch in den nächsten 500 Jahren werden Menschen diesen Glauben ehrlich und ernsthaft, fröhlich und gelassen, eigenständig und gemeinschaftlich leben.


Dr. Christina Aus der Au ist Privatdozentin an der Theologischen Fakultät der Universität Basel und 2017 Präsidentin des Kirchentages in Berlin und Wittenberg.