Auf der Wartburg in Eisenach verbrachte Martin Luther unfreiwillig ein knappes Jahr. Inkognito unter dem Decknamen Junker Jörg übersetzte er dort das Neue Testament in ein allgemein verständliches Deutsch. Das war nicht nur ein bedeutender Beitrag für die Theologie, sondern auch für die Vereinheitlichung der Landessprache.
Vogelfrei und unerkannt auf der Wartburg
„Wir stehen auf dem Haupthof der Wartburg. Der ist umgeben von Gebäuden des 12. bis 19. Jahrhunderts. Ganz wichtig ist das Hauptgebäude an der Burg der Stauferzeit, das ist der Pallas, der bei uns glücklicherweise erhalten ist und als besterhaltener romanischer Profanbau nördlich der Alpen gilt. 1155 bis etwa 1170 ist er errichtet worden. Aber wenn wir uns umdrehen, sehen wir auch Gebäude, die dem Mittelalter nachempfunden sind. Und während der sogenannten Wiederherstellung der Wartburg in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts völlig neu entstanden sind.“
Das heißt, so wie die Wartburg heute über der thüringischen Stadt Eisenach thront, sieht sie erst seit gut 150 Jahren aus, sagt Burghauptmann Günter Schuchardt. Den Anstoß für den Wiederaufbau der stark verfallenen Anlage gaben die deutschen Burschenschaften. Sie trafen sich im Oktober 1817 zu ihrem ersten Wartburgfest.
„Das Wartburgfest findet ja 1817 anlässlich der 300. Wiederkehr des Beginns der Reformation, also des Thesenanschlags statt. Spätestens da entsinnt sich auch der Eigentümer, das großherzogliche Haus Sachsen, Weimar, Eisenach, dass doch die Wartburg zuallererst eine Lutherstätte ist. Und es beginnt eine regelrechte Renaissance. Großherzog Karl Alexander plant ein Denkmal der Reformation auf der Wartburg zu errichten – nämlich in der Burgvogtei, wo Luther 1521, '22 geweilt hat.“
Die Geschichte der Wartburg bietet mehr als ausschließlich Luther
Ursprünglich wollte der Burgherr den großen Bergfried sogar als Lutherturm errichten lassen. Das oberste Turmzimmer sollte eine Bibliothek beherbergen, damit der Geist Luthers hoch über dem Thüringer Wald schwebe, sagt Burghauptmann Schuchardt nicht ganz ohne Ironie. Denn die fast 1000-jährige Geschichte der Wartburg gehört nicht allein dem Reformator, der gerade einmal ein knappes Jahr auf der Bergfestung verbrachte.
„Wir haben seit 1859 auf dem Bergfried ein drei Meter hohes goldenes christliches Kreuz, das an beide große Konfessionen erinnert. Der mittelalterliche Pallas war der Heiligen Elisabeth, auch dem Katholizismus gewidmet, und die Vorburg eben mit ihrem Zentralort Lutherstube, das sollte das Denkmal der Reformation werden.“
Luthers Aufenthalt von Mai 1521 bis März 1522 steht allerdings als überragendes Ereignis genau zwischen dem legendären Sängerkrieg auf der Wartburg, dem Wirken der Heiligen Elisabeth von Thüringen und der deutschen Nationalbewegung im 19. Jahrhundert. „Es geht ja auch um die Entwicklung der einheitlichen deutschen Sprache, das darf man bei aller Theologie nicht vergessen. Luther hat hier mit der Übersetzung des Neuen Testaments den Deutschen eigentlich ihre Sprache, die wir bis heute sprechen, an die Hand gegeben, und darauf besinnt man sich hier natürlich auch immer wieder. Das ist nach wie vor für uns das wichtigste Ereignis gewesen, der 4. Mai 1521, an dem er ja am Abend ankam. Da ist die Wartburg ein bisschen in die Weltgeschichte hinein getreten, darauf sind wir stolz und das feiern wir in jedem Jahr mit Ausstellungseröffnungen, Gottesdiensten und ähnlichem.“
Welterbe der Menschheit
Und wegen ihrer herausragenden kulturgeschichtlichen Bedeutung wurde die Wartburg 1999 von der UNESCO mit dem Titel „Welterbe der Menschheit“ geadelt. Bis zu einer halben Million Besucher machen sich alljährlich auf den steilen Weg nach oben. Sie wollen wissen, wie der Reformator in einer engen Stube die Bibel übersetzte, wo ihm der Teufel so auf den Pelz rückte, dass er mit dem Tintenfass nach ihm warf. Eine Pilgerbewegung zur Wartburg gab es bereits im späten 16. Jahrhundert. Verewigt haben sich die protestantischen Pilger und Reliquienjäger in den erhaltenen Holzwänden der Lutherstube:
„Wir stehen jetzt hier im wichtigsten Raum der Wartburg in der weltbekannten Lutherstube. Ein schlichter Raum, eine Bohlenstube mit einem Kachelofen heute, als Luther sich hier aufhielt, war das noch ein offener Kamin. Auf dem Boden liegt ein Walwirbel, der Luther als Fußschemel gedient hat, wahrscheinlich von dem Wal, von dem sich auch zwei Rippen in der Wittenberger Schlosskirche, also im Heiltum Friedrichs des Weisen, befanden. Der Tisch stammt von der Familie Luther, ein Kastentisch, so, wie er im 16. Jahrhundert als Schreibtisch gebräuchlich war.“
Der originale Tisch, an dem Martin Luther das Neue Testament übersetzte, soll Splitter für Splitter in den Taschen der Pilger verschwunden sein, bis er in sich zusammen fiel. „Man hat sogar gemeint, man könnte Zahnschmerzen damit heilen, wenn man sich so einen Span dann in den Mund steckt. Aber es ist verbürgt, dass er aus Luthers Verwandtschaft stammt. Und der Stuhl davor ist eine Nachbildung eines sogenannten Lutherstuhls aus Katzwang bei Nürnberg, im 19. Jahrhundert geschaffen. Wir können heute sagen, ganz so beengt hat Luther nicht gelebt. Als er hier war, hat er nicht nur diese eine Stube bewohnt, sondern auch die obere Vogteistube, durch die wir gerade gegangen sind. Die obere Vogteistube war ein gefangener Raum, sodass Luther doch eine recht komfortable Zweiraumwohnung hier auf der Wartburg vorfand.“
Legende ist natürlich auch der für einen wahren Lutherort unvermeidliche Tintenfleck. Er soll sich zwischen Kamin und Luthertisch etwa in Augenhöhe befunden haben. Heute ist das eine ausgehöhlte Putzfläche. Auf Druckgrafiken aus dem 17. und 18. Jahrhundert ist der Fleck noch deutlich abgebildet. „Der ist hier nachzuweisen gewesen so zwischen 1650, also weit über 100 Jahre nach Martin Luthers Aufenthalt, bis Mitte des 19. Jahrhunderts. Er hält sich also ziemlich lange, 200 Jahre, und wird von den Fremdenführern immer wieder erneuert, nachdem ihn eben auch die Besucher putzbröckchenweise abgekratzt und irgendwie mit nach Hause getragen haben.“
„Natürlich ist der Tintenfleck nicht authentisch“
Auch auf der Veste Coburg und in Wittenberg soll Luther den Teufel mit seinem Tintenfass vertrieben haben. Gut vorstellbar, wenn man sich den einsamem Theologen Tag und Nacht über griechische Originalschriften gebeugt bei Kerzenlicht die Evangelien ins Deutsche übertragen sieht. Und das in wenigen Wochen. „Luther war ja durchaus auch abergläubisch. Es gab ja auch viele Anfeindungen. Es gibt dann die Legende, es sei der Teufel ihm als Hund erschienen, er habe ihn aus dem Fenster geworfen, oder der Teufel sei hinter dem Kamin gewesen und habe mit Nüssen nach ihm geworfen. Das sind alles so Dinge, die kommen dann erst nach Luthers Tod auf, Legenden, die einfach weiter erzählt werden. Natürlich ist der Tintenfleck nicht authentisch.“
Klar ist jedoch, dass Luthers Situation auf der Wartburg alles andere als angenehm war. Es mangelte ihm nicht an Fürsorge und Unterstützung. Doch alleine die Umstände seiner von Friedrich dem Weisen arrangierten Entführung dürften ihm zu schaffen gemacht haben. Unweit von Eisenach im heutigen Luthergrund war er bei der Rückreise aus Worms von kurfürstlichen Reitern gefangen genommen und auf die Wartburg verbracht worden. Ein Coup Friedrichs, um sein Landeskind vor den Gefahren der Reichsacht zu schützen. Beim Wormser Reichstag hatte sich Luther im Beisein von Kaiser Karl V. geweigert, seine reformatorischen Ansichten zu widerrufen. Von der römischen Kirche war er bereits als Häretiker, das heißt als Ketzer, verurteilt und mit dem Kirchenbann belegt worden.
Vom Reichstag ins Visier genommen wurden besonders die nach der Leipziger Disputation verfassten Schriften, in denen Luther den Primat des Papstes infrage stellte. Die Reichsacht war daraufhin unvermeidlich. Luther wurde für vogelfrei erklärt, aber anders als Jan Hus 100 Jahre zuvor nicht als Ketzer verbrannt. Doch die Gefahr, getötet zu werden, war auch nach Luthers Abreise aus Worms nicht vorüber. Sein großer Fürsprecher, Kurfürst Friedrich der Weise, hatte freies Geleit für seinen Schützling durchgesetzt, so der Historiker Jochen Birkenmeier, Geschäftsführer der Stiftung Lutherhaus Eisenach. „Und es kam das Gerücht auf, Luther sei ermordet worden. Dürer beklagt das ja sehr stark, er sagt, dieser große Gottesmann sei also auf so schändliche Weise verraten und ermordet worden. Also das wollte man auch in die Welt setzen, dass man sagt, Luther ist wahrscheinlich tot oder irgendwo verschollen, damit er erst mal aus dem Wege ist.“
Eingewöhnungsprobleme auf der Wartburg
In den späten Abendstunden des 4. März 1521 kam Luther auf der Wartburg an, inkognito als Junker Jörg. Nur wenige waren eingeweiht. Für Kurfürst Friedrich war es ein meisterhafter Schachzug, dem Kaiser nicht direkt die Stirn zu bieten und Zeit zu gewinnen. Luther durfte unbehelligt von der römischen Kurie und der Kaiserlichen Gerichtsbarkeit weiter an seinen reformatorischen Ideen arbeiten. Die Wartburg habe dem Augustinermönch allerdings überhaupt nicht zugesagt, meint Burghauptmann Schuchardt, obwohl Eisenach für ihn ein heimatlicher Ort war.
„Er musste sich die Tonsur zuwachsen lassen und auch einen Bart wachsen lassen – vor allen Dingen. Er hat später nie wieder einen Bart getragen. Das war ihm nicht recht. Er konnte sich hier allerdings auch frei bewegen. Er berichtet ja von einer Jagd, an der er teilgenommen hat, das hat ihm nicht gefallen, dass man da auf Hasen ging. Er hat versucht, einen Hasen zu verstecken in seinem Mantel, die Hunde kamen aber und haben den Hasen gerochen und durch den Mantel hindurch den Hasen tot gebissen. Erst nach einigen Wochen hat er sich mit seinem Schicksal hier abgefunden, er hatte dann auch die nötige Handbibliothek, um hier arbeiten zu können. Er hat einen regelmäßigen Briefwechsel geführt, auch wenn er seinen Absenderort nicht preisgeben konnte.“
Nur einmal verließ Luther die Wartburg, kurz vor Weihnachten 1521. Er reiste heimlich nach Wittenberg, um den dortigen Bildersturm in gemäßigte Bahnen zu lenken. Erfolgreich beschwichtigte Luther die Bilderstürmer, nicht das gesamte Glaubensgerüst der römischen Kirche zu stürzen. Nach Eisenach zurückgekehrt begann eine der intensivsten und folgenreichsten Phasen seines Schaffens. Die Übersetzung des Neuen Testaments in eine allgemein verständliche deutsche Sprache.
„Ja, das ist natürlich auch eine Meisterleistung, das kann man sich gar nicht vorstellen eigentlich. Das sind 27 Bücher, und das in zehn Wochen hier zu übersetzen. Er hat konsequent durchgearbeitet, war Ende Februar fertig und hat dann gleich seine Sachen gepackt und ist am 1. März in Richtung Wittenberg davon gegangen. Und leider auch nie wieder auf die Wartburg zurückgekehrt.“
Dieser Beitrag lief am 06. Januar 2015 auf Deutschlandfunk und wurde www.luther2017.de mit freundlicher Genehemigung zur Verfügung gestellt.