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Die Ausbreitung der Reformation im Europa des 16. Jahrhunderts

Ein Überblick von Prof. Dr. Susanne Lachenicht

Die Reformation markiert zusammen mit Renaissance und Humanismus, mit dem Zeitalter der Entdeckungen (Columbus 1492) und der europäischen Expansion den Beginn der Frühen Neuzeit oder europäischen Moderne, einen Epochenschnitt also. Sie war zum einen theologische Erneuerungsbewegung, die Reformen im Bereich der Doktrin (der Glaubenslehre), der Liturgie (der äußeren Form des Gottesdienstes) und der Kirchenhierarchie zum Ziel hatte. Zum anderen brachte sie in vielen europäischen Staaten eine politische Zäsur: die Abkehr von Rom, vom Papst, die Vereinigung von weltlicher und geistlicher Herrschaft, von Souveränität in der Person des Landesfürsten.

Die Reformation hatte von Anfang an eine Europäische Dimension

Jan-Hus-Denkmal in Prag
Das Jan-Hus-Denkmal auf dem Altstädter Ring in Prag
(Bild: Jiricek72/pixabay)

Die Kritik an Dogmen und Praktiken der katholischen Kirche verstummte allerdings nicht. Auch aus humanistischen Kreisen kamen Stimmen wie die von Erasmus von Rotterdam, die den einzelnen Gläubigen und sein Seelenheil wieder in den Fokus der Kirche gestellt sehen wollten. Zusätzlich förderte auch die Erfindung des Buchdrucks in den 1450er-Jahren durch Johannes Gutenberg die Verbreitung theologischer und politischer Traktate sowie der Ideen von Humanisten und Kirchenreformern. Mit dem Buchdruck ließen sich diese ebenso wie Flugschriften und Pamphlete in größeren Auflagen drucken und verbreiten.

Zu den Kritikern der katholischen Kirche und des Ablasshandels im Besonderen gehörte auch der deutsche Augustinermönch Martin Luther. 1517 veröffentliche Luther seine 95 Thesen. Nachdem Luther 1518 und 1519 in theologischen Disputationen die Unfehlbarkeit von Papst und Konzilien angezweifelt hatte, wurde er nach Rom zitiert und 1521 auf dem Wormser Reichstag die Reichsacht über ihn verhängt. Dass Luther nicht wie andere Kirchenkritiker auf dem Scheiterhaufen sterben musste, verdankte er nicht nur den Partikularinteressen und dem Schutz deutscher Reichsfürsten wie Friedrichs des Weisen von Sachsen, sondern auch der Tatsache, dass der Kaiser des Reichs, Karl V., im Krieg mit Franz I. von Frankreich um Oberitalien stand und an der Ostgrenze des Reichs die Osmanen abzuwehren suchte. Die Reformation hatte damit von Anfang an eine europäische Dimension. Luthers Schriften wurden ab 1517 auch ins Englische, Niederländische und Französische übersetzt.

Lutheraner und Reformierte

Porträt von Johannes Calvin
In Metall geprägtes Porträt von Johannes Calvin im Jean Calvin-Museum in Noyon (Bild: © epd-bild/Horst Wagner/Musée Je)

Zu den wichtigsten Reformen der lutherischen Kirche, nicht nur im Heiligen Römischen Reich, sondern auch in den lutherisch werdenden skandinavischen Königreichen (Schweden ab 1527, Dänemark ab 1529, Norwegen als Teil von Dänemark 1539, Finnland als Teil von Schweden ab ca. 1550) gehörte die Reduzierung der sieben Sakramente Taufe, Kommunion, Firmung, Beichte, Priesterweihe, Ehe und Sterbesakramente auf zwei: Taufe und Abendmahl. Die lutherischen Kirchen bildeten sich größerenteils als Bischofs- oder Episkopalkirchen heraus, deren Bischöfe allerdings nicht der Autorität Roms, sondern dem jeweiligen Landesherren bzw. Staatsoberhaupt unterstanden.

Weit radikaler noch als Luther waren jedoch einige Reformatoren der sogenannten zweiten Generation: der in der französischen Picardie geborene Johannes Calvin (1509˗1564) und der Zürcher Theologe Huldrych Zwingli (1484˗1531). Zwingli und Calvin entwickelten nicht nur eigene Abendmahls-, sondern auch Prädestinationslehren. Die Reformation in Europa spaltete sich in Lutheraner und Reformierte, letztere u. a. dann weiter in Zwinglianer und Calvinisten auf. Von Zürich bzw. von Genf aus erreichte die Reformation weitere Teile der Schweiz, u. a. Basel und Bern, dann auch die freie Reichsstadt Straßburg. Der Calvinismus breitete sich auch in Frankreich aus, wo die ersten hugenottischen Kirchen in den 1550er-Jahren in Konkurrenz zur katholischen, der Gallikanischen Kirche entstanden. Calvinistisch wurden auch die Kurpfalz, die Niederlande, England und (Teile von) Schottland. Straßburg entwickelte sich bis in die 1540er-Jahre zu einem wichtigen Zentrum des Exils für europäische Protestanten, vor allem zur Regierungszeit der Katholikin Maria Tudor auf dem englischen Thron (1553˗1558), die die von ihrem Halbbruder Eduard VI. eingeführte Reformation in England, Schottland und Irland rückgängig zu machen suchte.

In Spanien, Portugal, ihren Überseegebieten, und in Italien, konnte sich die Reformation nicht ausbreiten. Lediglich im Norden Italiens, in den Tälern Savoyens, entstanden waldensische Kirchengemeinden.

Die Spaltung der Christenheit durch Luthers Lehre

Allen protestantischen Kirchen in Europa gemein war die Ablehnung des Papstes als höchste Autorität der (westlichen) Christenheit, die Aufhebung des Zölibats, d.h. des Verbots der Priesterehe, und die Abschaffung des lateinischen Ritus, der durch die Volkssprachen ersetzt wurde. Ebenso gehörte die Übersetzung der Bibel in die Volkssprache zu den wichtigsten Elementen der Reformation. Der weltliche Herrscher wurde in vielen protestantischen Kirchen zur obersten Autorität, jedoch nicht in allen calvinistischen, die teilweise jede höhere Autorität jenseits der Gemeinde ablehnten und im presbyterianischen Sinne auf Gemeindeautonomie beharrten.

Lutherbibel
Sie war ein Jahrhundert-Ereignis und wirkt bis heute: Die Übersetzung der Bibel durch Martin Luther. Für Protestanten ist sie das Grundbuch des Glaubens, für die Deutschen ein Quell der Sprache. (Bild: © epd-bild / Jens Schulze)

Als europäisches Ereignis betraf die Reformation vor allem West-, Mittel- und Nordeuropa  sowie die entstehenden Kolonien europäischer Mächte in Amerika, der Karibik, Asien und Afrika. Ein Teil der Ostkirchen war nach 1453 sukzessive in den Herrschaftsbereich des Osmanischen Reichs gekommen, die russisch-orthodoxe Kirche war von der Reformation kaum betroffen, in Ungarn konnte sich der Calvinismus in Teilen etablieren. Ebenso breitete sich die Reformation, die lutherische und calvinistische, im Königreich Polen-Litauen aus, da hier nicht der König, sondern letztendlich adlige Magnaten auf ihren Latifundien über die konfessionellen Zugehörigkeiten ihrer Untertanen bzw. das Maß an religiöser Toleranz entschieden. In Polen-Litauen lebten in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts nicht nur Katholiken, Protestanten und Orthodoxe nebeneinander, sondern auch Juden und Muslime.

Die Spaltung der Christenheit durch Luthers Lehre in Protestanten und Katholiken kann in ihren Konsequenzen für das Europa der Frühen Neuzeit kaum überschätzt werden – nicht nur für das 16. Jahrhundert. In Frankreich führte sie zu einem fast 40 Jahre dauernden blutigen Bürgerkrieg, den sogenannten Hugenottenkriegen (1562˗1598), in die auch das katholische Spanien immer wieder eingriff und die erst durch das Edikt von Nantes (1598) beendet wurden. Bis 1685 gab es eine durch königliches Dekret geregelte Koexistenz von Katholiken und Calvinisten in Frankreich.

In den Niederlanden, d. h. dem heutigen Belgien, den Niederlanden und Teilen Luxemburgs, die seit 1477 unter habsburgischer Herrschaft standen, kam es zu grausamen Verfolgungen von Protestanten, zur Unabhängigkeitserklärung der nördlichen Provinzen der Niederlande (1579) und zu einem 80 Jahre währenden Krieg zwischen Spanien und den Niederlanden (1568˗1648).

Zur Geschichte der Reformation in Europa

Zur Geschichte der Reformation in Europa gehörten auch die Verfolgung, Folter und grausame Hinrichtung von Anhängern reformatorischer Bewegungen wie den Täufern, die in fast allen Teilen Europas von Katholiken, Lutheranern und Calvinisten verfolgt wurden, die Geschichte von Vertreibung, Verfolgung, Migration und Ansiedlung von in anderen Territorien unerwünschten Konfessionen – frei nach dem 1555 im Augsburger Religionsfrieden etablierten Prinzip des cuius regio, eius religio (wessen Gebiet, dessen Religion), das nicht nur im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation, sondern auch in vielen anderen Teilen Europas seine Anwendung fand – bis ins 19. Jahrhundert. Verfolgung, Migration, Vertreibung, Deportation von Anderskonfessionellen gab es in Europa weit über den Westfälischen Frieden (1648) hinaus, durch den die konfessionellen Zuständigkeiten der europäischen Herrscher noch einmal verfestigt wurden.

Zur Geschichte der Reformation in Europa gehören aber auch religiöse Toleranz und Pluralismus, wofür nicht nur Teile der nördlichen Niederlande, sondern auch das Königreich Polen-Litauen und einige deutsche Territorien wie etwa die Kurpfalz, Kurbrandenburg oder Anhalt stehen. Toleranz hieß in der Frühen Neuzeit jedoch nicht Gleichberechtigung der Konfessionen und Religionen, sondern Duldung – eine Praxis, aus der sich Pluralismus und Toleranz in ihrer modernen Form entwickelten.


Der Text wurde Luther2017.de mit freundlicher Genehmigung der Autorin zu Verfügung gestellt. 

Prof. Dr. Susanne Lachenicht ist Inhaberin des Lehrstuhls für Geschichte der Frühen Neuzeit an der Universität Bayreuth.