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Unter den in Italien wirkenden Anhängern der Reformation zeichnete sich Baldassare Altieri durch direkte Kontakte zu Martin Luther und dessen Wittenberger Kollegen aus. Dieser Kontakt ist erstmals im Jahre 1536 belegt durch einen Brief an den Renaissance-Literaten Pietro Aretino, der nicht zuletzt durch gewagte erotische Dichtungen Berühmtheit erlangte. Aus Altieris Schreiben weiß man, dass er aus L'Aquila in den Abruzzen stammte und durch Aretinos Empfehlung Sekretär des Grafen von Modena geworden war. Man kann ihn damit als einen Angehörigen der humanistischen Elite betrachten. Weitergehende Nachrichten über seine Abstammung – möglicherweise aus der gleichnamigen römischen Familie? – oder seinen Bildungsgang liegen allerdings nicht vor.

Schlüsselfigur italienischer Gemeinden in Venedig

In den 40er Jahren des 16. Jahrhunderts erscheint Altieri als Schlüsselfigur jener evangelischen Gemeinden, die sich im Herrschaftsgebiet von Venedig konstituiert hatten und in der italienischen Reformationsgeschichte eine Besonderheit darstellen. Insgesamt war die Ausbreitung reformatorischer Gedanken in Italien, sieht man von den Waldensern und einigen täuferischen Gruppen ab, weitgehend auf Netzwerke von Intellektuellen beschränkt, die ihre Überzeugungen durch persönliche Kontakte sowie die Lektüre und Übersetzung von Schriften pflegten. Sie versuchten aber in der Regel nicht, sich öffentlich sichtbar und als von der katholischen Kirche getrennte Kultusgemeinschaft zu etablieren.

Auf venezianischem Territorium ging die Obrigkeit ursprünglich nicht entschieden gegen evangelische Tendenzen vor. Bereits seit den 20er Jahren des 16. Jahrhunderts hatte sich die Stadt zum italienischen Zentrum reformatorischer Buchproduktion entwickelt.

Wittenberger dringen auf die Einhaltung reformatorischer Prinzipien in Venedig

Von den Einflüssen der Reformation in dieser Region erfährt man etwas aus einem Briefwechsel mit Philipp Melanchthon, der sich im Anschluss an den Besuch des italienischen Priesters Michele Braccetto in Wittenberg ergab. Im Januar 1539 schrieb Melanchthon seinen Glaubensbrüdern in Italien und legte ihnen die Reinheit der evangelischen Lehre ans Herz, für die er drei Kernpunkte aufzählte: die Bußlehre (der zufolge die Versöhnung mit Gott allein aufgrund der „Wohltat Christi" möglich ist), die Unterscheidung von Gesetz und Evangelium und die Reinigung der Liturgie von den verdienstlichen Elementen. Ferner warnte er vor der Lehre des Miguel Servet, der das kirchliche Dogma von der Dreifaltigkeit ablehnte. Die Wittenberger unternahmen also den Versuch, unter den venezianischen Anhängern auf die Einhaltung zentraler reformatorischer Prinzipien hinzuwirken.

Gleichwohl hatte zuvor scheinbar der venezianische Besucher versucht, Melanchthon zur römischen Kirche zurückzuführen. In der Folgezeit existierte jedenfalls ein konsolidiertes evangelisches Gemeindeleben in Venedig, dem auch Baldassare Altieri zuzurechnen ist. Seit 1540 ist er als Sekretär des englischen Gesandten in Venedig belegt. Indirekt profitierte er dadurch von der religiösen Tolerierung eines Monarchen, der den Papst nicht anerkannte – in diesem Falle seines Dienstherren Heinrich VIII. –, die nach damaligen Vorstellungen auch dessen Gesandten betraf.

Brief an Luther, „gleichsam unser Vater und Bruder in Christus"

Im Jahre 1542 trat Altieri als Sprecher dieses Gemeindeverbundes hervor, indem er zwei hochoffizielle, weitgehend gleichlautende Briefe der „Brüder der Kirchen von Venedig, Vicenza und Tarvisio“ an Luther und an Melanchthon verfasste. Luther wird darin von Altieri als „gleichsam unser Vater und Bruder in Christus" angeredet. In komplexem Humanistenlatein legt Altieri den Wittenbergern zwei Anliegen vor.

Zum einen hatten sich in Venedig, wie in ganz Italien, die religiösen Rahmenbedingungen verändert, seit 1541/42 die römische Inquisition auf eine höhere Effizienz hin reformiert worden war. Angesichts der einsetzenden Verhaftungen baten die Venezianer um Fürsprache des Schmalkaldischen Bundes beim Senat der Stadt. Dieser Bitte wurde auch entsprochen, jedoch hatte die Intervention keine Wirkung. Zum andern nahm Altieri zur wiederaufflammenden Abendmahlskontroverse Stellung. Er bat Luther, in der Abendmahlslehre auf Eintracht unter den Evangelischen bedacht zu sein. Dazu berief sich der Italiener ausdrücklich auf den Straßburger Prediger Martin Bucer, der seit längerem Kontakte zu „Brüdern in Italien" pflegte. Angesichts des steigenden äußeren Drucks, unter dem die evangelischen Venezianer standen, musste die Aussicht innerevangelischer Konflikte umso bedrohlicher wirken. Vermutlich teilten Altieri und weitere der "Brüder" zudem schon längere Zeit die Auffassungen Bucers.

Altieri als letzte Bastion nach Auflösung der Gemeinden

Luther, dessen Verhältnis zu Bucer von Misstrauen geprägt war, antwortete den Venezianern erst im Juni 1543 und unterstrich dabei die Wittenberger Sicht des Abendmahls. Die Kontakte zwischen Venedig und Wittenberg rissen jedoch nicht ab. Ebenfalls 1543 weiß Melanchthon von vier evangelischen Predigern in Venedig. Eine weitere Bitte um Unterstützung, die Altieri im August 1543 absandte, wurde von Luther erst im November 1544 beantwortet. Nochmals stand die Warnung vor den „Sakramentierern" im Zentrum des Briefes.

Wenig später zeichnet ein Schreiben des Gräzisten und Hebraisten Matthias Guttich an Melanchthon bereits ein Bild der Auflösung: Zahlreiche Mitglieder der Gemeinden haben widerrufen oder sind geflohen, mehrere Personen sind in Haft, und Altieri erscheint aufgrund seines Diplomatenstatus als letzte Bastion. Weitere Nachrichten über ein evangelisches Gemeindeleben in Venedig trafen in Wittenberg nicht mehr ein. Das im Jahre 1539 umrissene Projekt eines Gemeindeaufbaus war damit gescheitert.

Ein Ende als reformatorischer Flüchtling

Altieri selbst hielt allerdings noch mehrere Jahre in Venedig aus und vertrat selbstbewusst seine reformatorischen Auffassungen. Im Februar 1544 verschaffte er sich einen offiziellen Auftrag als Gesandter des Schmalkaldischen Bundes in Venedig und wurde als solcher gegen den Widerspruch der Kurie beim Senat akkreditiert. Die Niederlage und Auflösung des Bundes 1547 sowie die Entlassung durch den englischen Gesandten brachten Altieri jedoch in eine prekäre Lage, zumal die evangelischen Kantone der Schweiz nicht bereit waren, ihn nun ihrerseits als Gesandten zu beauftragen.

Dabei spielte eine Rolle, dass er sich nach der Scheidung von seiner Frau wiederverheiratet hatte. Nach der Rückkehr von einem Besuch in Graubünden im Sommer 1549 musste er Venedig fluchtartig verlassen und brachte sich und seine Familie in Bergamo in Sicherheit. Seine Versuche, in den Dienst des Cosimo I. de' Medici in Florenz oder der Herzogin Renate von Ferrara zu treten, scheiterten an der von ihm gestellten Bedingung, die reformatorische Lehre öffentlich bekennen zu dürfen. So verbrachte Altieri sein letztes Lebensjahr als Flüchtling, bis er im August 1550 vermutlich in Bergamo verstarb.