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Wem hat Luther „aufs Maul geschaut“? – Luthers Einfluss auf die Sprache Interview mit dem Sprachforscher Hartmut Günther

„Mehr als ein paar kluge Redewendungen“ hat Martin Luther den Deutschen nach Ansicht des Sprachforschers Hartmut Günther hinterlassen. Der Reformator und Bibelübersetzer hörte ganz genau hin, wie den Leuten um ihn herum der Schnabel gewachsen war und rang unermüdlich um jedes Wort. Damit gelangen ihm nicht nur besondere Wortschöpfungen, er „formte und prägte die Sprache entscheidend mit“, so der Sprachwissenschaftler. Der Wortschatz der Lutherbibel einte die vielfältigen Dialekte des deutschen Sprachraums, so dass sich heute Friesen und Bayern – überwiegend – derselben Vokabeln bedienen. Hanna Lucassen sprach mit Hartmut Günther über den Einfluss Martin Luthers auf die Sprache.

luther2017.de: Wie würden wir heute sprechen, wenn Luther nicht gewesen wäre?

Hartmut Günther: Ohne diese Begriffe: Lückenbüßer, friedfertig, wetterwendisch, Machtwort, Feuereifer, Langmut, Lästermaul, Morgenland. Stammen alle von Luther. Im Süddeutschen würde man vielleicht noch Lefze statt Lippe sagen, und Geißel statt Peitsche – Wörter aus dem Norden, die Luther auch nach Bayern brachte. Fraglich ist auch, ob wir die Redewendungen kennen würden, die er populär gemacht hat: Sein Licht unter den Scheffel stellen. Ein Stein des Anstoßes sein. Mit Blindheit geschlagen sein. Der Mensch lebt nicht vom Brot allein. Niemand kann zwei Herren dienen.

Würden wir uns auch weniger deftig ausdrücken?

Günther: „Warum furzet und rülpset Ihr nicht? Hat es Euch nicht geschmacket?“ ist natürlich ein tolles Zitat, wenn auch nicht sicher ist, ob es von ihm ist. Oder: „Aus einem verzagten Arsch kommt kein fröhlicher Furz“. Luther war sehr cholerisch. Der „Grobinanismus“ in seinen Schmähschriften und zum Teil auch den Tischreden ist aber auch zeittypisch. Da ging es eben körperlicher zu. Umso bemerkenswerter, dass Luther in der Bibelübersetzung auf solche Ausdrücke fast völlig verzichtet. Sein Bibeldeutsch war gehoben. Statt „Es war einmal“ schreibt er „Es begab sich“.

Haben einzelne Wörter durch ihn auch ihre Bedeutung verändert?

Günther: „Pfaffe“ wurde erst durch ihn negativ besetzt. Für seine Zeitgenossen war das ganz wertfrei ein „Weltgeistlicher“. Ebenso: „Götze“, das war ein Heiligenbildchen. Und "ruchlos“, was schlicht "rücksichtslos“ bedeutete. In erster Linie aber füllte Luther religiöse Begriffe wie „Glaube“ oder „Gnade“ mit neuem Inhalt, oder brachte säkuläre Begriffe wie "fromm“ (gut, tüchtig) in die kirchliche Sphäre. Und der Begriff „Beruf“ war damals nur dem Pfarrer vorbehalten; Luther weitete ihn auf jede andere bezahlte Tätigkeit aus.

Sucht man eigentlich richtig, wenn man die Spuren Martin Luthers in einzelnen Begriffen sucht?

Günther: Das ist, wie wenn man bei der Muschelsuche am Strand besonders schöne Einzelexemplare findet. Aber das sind nur besonders glänzende Fundstücke und noch nicht alles. Es gibt auch noch den Sand darunter. Auch wenn Luther die deutsche Sprache nicht erfunden hat: Er formte und prägte sie entscheidend mit.

Was war denn sein Rohmaterial?

Günther: In Deutschland gab es zu der Zeit etwa 20 verschiedene Sprachen oder Dialekte. Im Groben teilten diese sich in zwei große Sprachgebiete: Oberdeutsch im Süden, Niederdeutsch im Norden. Luther selbst wohnte genau an der Grenze. Aufgewachsen im (niederdeutschen) Eisleben und lange ansässig in (hochdeutschen) Wittenberg, war es für ihn selbstverständlich, sich beider Sprachen zu bedienen. Das läuft in solchen Gebieten doch auch heute so. Ich wohnte mal eine Zeitlang in Kleve, nahe der holländischen Grenze. Da benutzt man auch ganz selbstverständlich holländische Begriffe. Die Bibel hat Luther dann in eine Sprache übersetzt, die sowohl niederdeutsche als auch oberdeutsche Elemente hatte.

Titelholzschnitt der Lutherbibel
Titelholzschnitt der Lutherbibel (1541) (Foto: Wikimedia Commons)

Und das haben dann beide Seiten gleich verstanden?

Günther: Nein. Im Süden erschienen bald Übersetzungshefte zu der Lutherbibel. Da konnte man die unbekannten niederdeutschen Wörter nachschlagen: „Träne“ zum Beispiel (oberdeutsch: Zähre) und „Hügel“ (Bühel). Aber auch im Norden mussten sich die Leute mit Unbekanntem wie „Schwanz“ (niederdeutsch: Zagel) oder „gefallen“ (behagen) herumschlagen. Am besten ging es sicher denjenigen, die in der Gegend von Luther lebten. Denn im Groben war es eben seine Sprache – und die seiner Region. Mit „Ihr müsst dem Volk aufs Maul schauen“ meinte er: Ihr müsst hören, wie die Leute bei Euch sprechen. Und das hatte er getan.

Ein Volk besteht aus Herren und Dienern, Frauen und Männer, Alten und Jungen – wem hat Luther wirklich „aufs Maul geschaut“?

Günther: Er ist sicher nicht zu den Bauern gegangen oder hat sich in Gossen herumgedrückt. „Maul“ war damals auch ein normaler Ausdruck für Mund. Der Punkt für ihn war: Wenn Du als Pfarrer etwas über eine Schreinerei erzählen willst, musst Du erfahren, wie ein Schreiner spricht. Wenn es um Krankheiten geht, den Arzt fragen. Du musst so reden, dass die Leute dich verstehen.

Das heißt auch, das Wesentliche zu erfassen und nicht an den Worten kleben. Luther amüsierte sich über wörtliche Übersetzungen, an denen ja auch die vorherigen Bibelübersetzungen krankten. Christus' Worte „Ex abundantia cordis os loquitur“, so schrieb er im „Sendbrief zum Dolmetschen“, würden dann zu „Aus dem Überfluss des Herzens redet der Mund“ werden. Das aber sei Quatsch, meinte er, das verstehe kein Deutscher. Luther übersetzte stattdessen: Wes das Herz voll ist, des gehet der Mund über. Ist als Sprichwort bis heute erhalten.

Hat er so etwas aus dem Ärmel geschüttelt? Fiel ihm das Übersetzen leicht?

Günther: Er hat sich das zumindest nicht leicht gemacht. Und mit jedem Wort gerungen, oft wochenlang. „Ave Maria, gratia plena“ wäre eigentlich zu übersetzen mit „Maria voll von Gnade“. Mit „voll“ aber verbinden die einfachen Leute einen vollen Bauch, meinte Luther, oder ein Fass voll Bier. So könne man nicht übersetzen. Er hat dann „holdselige Maria“ daraus gemacht. Damit konnten die Menschen eher etwas anfangen.

Um zum Bild des Strandes zurück zu kehren: Vielleicht könnte man sagen: Er hat den Sand durchmischt. Aber nichts wild- hin und hergeworfen. Sondern jedes Körnchen, jeden Stein und jede Muschel sorgsam und wohlüberlegt dorthin gelegt, wo es seiner Meinung nach liegen sollte.

Hatte Luther auch Spaß und Lust an der Sprache?

Günther: Ja, das glaube ich. Er war ein sehr wortgewaltiger Prediger. Seine Wirkung erzielte er in erster Linie durch seine Worte. Er war ja auch im Lateinischen sehr versiert. Seine berühmten Tischreden waren zweisprachig, da hat er ein ganz spezifisches Gemisch aus Latein und Deutsch. Und er war ja auch ein sehr musikalischer Mensch.

Schätzungen zufolge lag Luthers Bibel bald jedem fünften Haushalt. Aber lesen konnten zu seiner Zeit doch die Wenigsten?

Günther: Wahrscheinlich hat sich die Familie oder der Hof abends versammelt und einer, der es konnte, hat vorgelesen. Luther hat sich ja auch außerordentlich für Bildung eingesetzt, und Bürgermeister und Rathäuser dazu angehalten, in deutschen Städten christliche Schulen einzurichten. Er wollte, dass die Leute selbst lesen können.

Wie lange dauerte es, bis Luthers Einheitsdeutsch wirklich zur Sprache aller Deutschen wurde?

Günther: Es vergingen noch drei- bis vierhundert Jahre, bis sie sich so durchgesetzt hat, dass Schriftsteller, Gelehrte und Pfarrer sie in ihren Texten verwendeten und die Kinder in der Schule lernten, so zu schreiben. Erst im 19. Jahrhundert bildete sich auch auf der gesprochenen Ebene, jenseits der Dialekte, eine gemeinsame deutsche Sprache heraus. Diese verändert sich natürlich immer weiter.

Und entfernt sich mehr und mehr vom Bibeltext Luthers. Ein Problem?

Günther: „Holdselige Maria“ – das versteht in der Tat heute keiner mehr. Und wenn die Kinder zu Weihnachten „Holder Knabe“ singen, wissen sie nicht, was das bedeutet. Luthers Text galt Jahrhunderte lang als sakrosankt und wurde deshalb kaum verändert. Nach dem zweiten Weltkrieg kamen allerdings neue behutsame Übersetzungen heraus, von Hermann Menge oder Jörg Zink.

„Gut drauf ist, wer Bock hat, rauszufinden, was Gott von ihm will, täglich, 24 Stunden. Wer in seinen Verträgen liest Tag und Nacht und sich darüber voll den Kopf macht.“ So übersetzen die Macher der „Volxbibel“ den Psalm 1, Vers 2, und wollen damit Jugendliche erreichen. Bewegen sie sich in guter lutherischer Tradition?

Günther: Die „Volxbibel“ vereinfacht, und das ist problematisch. Und sie geht mit der Mode. Luther wollte, dass die einfachen Leute die Worte verstehen. Aber nicht, dass deren Unwissenheit das Niveau der Sprache bestimmt. Um etwas Wichtiges wie die christliche Botschaft zu transportieren, braucht es eine niveauvolle, universale Sprache, die nicht beliebig veränderbar ist. Sonst geht das Wesentliche kaputt. Luther war durchaus ein elitärer Mensch. Auch ein autoritärer. Er erwartete, dass seine Übersetzung angenommen wird und keiner daran herummischt.

Würden wir ohne ihn eigentlich auch anders schreiben?

Günther: Wir hätten es eventuell einfacher und müssten die Nomen nicht groß schreiben. Im 17. Jahrhundert verschwand diese Regelung in allen europäischen Sprachen Europas – nur im Deutschen nicht. Das würde ich schon an Luther festmachen. Er wandte in der Bibelübersetzung von 1534 als erster relativ durchgängig die Substantivgroßschreibung an.

Ihr Fazit: Wird Luthers Einfluss auf die deutsche Sprache über- oder unterschätzt?

Günther: Beides. Jacob Grimm etwa schreibt 1822: „Luthers Sprache muss in ihrer edlen, fast wunderbaren Reinheit, für Kern und Grundlage der neuhochdeutschen Sprachniedersetzung gehalten werden“. DDR-Sprachhistoriker Joachim Schildt dagegen 1983: „Insgesamt gesehen war dieser sprachgeschichtliche Prozess jedoch Ausdruck des Wirkens objektiver Gesetzmäßigkeiten.“ Sicher ist: Das, was Luther uns sprachlich hinterließ, waren mehr als ein paar kluge Redewendungen. Mich beeindruckt sein Anspruch, unermüdlich nach den „richtigen“ Worten zu suchen, die sowohl dem Gegenüber gerecht werden als auch der Sache. Das sind Fußstapfen, in denen es uns gut tät, weiter zu wandern.

Das Interview führte Hanna Lucassen 


Der Sprachforscher Prof. Dr. Hartmut Günther, geboren 1946 in Mölln, hatte von 1996 bis 2011 den Lehrstuhl für Deutsche Sprache und Literatur und ihre Didaktik an der Universität zu Köln inne. Seit 2011 ist er emeritiert.

Hartmut Günther
(Foto: privat)

Der Sprachforscher Prof. Dr. Hartmut Günther, geboren 1946 in Mölln, hatte von 1996 bis 2011 den Lehrstuhl für Deutsche Sprache und Literatur und ihre Didaktik an der Universität zu Köln inne. Seit 2011 ist er emeritiert.