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Von der Narrenfreiheit als Erbe der Reformation von Angela Rinn

Martin Luther mit Narrenkappe
(Collage: Stefan Weigand, Quelle: wikimedia.de)

Martin Luther hat sich in seiner Schrift „An den christlichen Adel deutscher Nation von des christlichen Standes Besserung“ auf die Freiheit des Hofnarren bezogen, den Finger in die Wunde zu legen und die Wahrheit frei zu sagen: „Ich ... sag das fur mein hoffrecht frey.“ Ja es scheint, als schlüpfe er schreibend selbst in die Rolle des Hofnarren: „wil ich doch das narn spiel hynauß singen unnd sagen ßouil mein vorstand vormag.“

Die Menschen aller Zeiten haben Angst vor der Freiheit der Wahrheit. Zugleich brauchen wir Menschen sie zum Leben. Selbst der abgebrühteste Lügner braucht einen Funken Wahrheit zum Leben und Überleben. Deshalb gab es an den fürstlichen Höfen vergangener Zeiten immer einen Hofnarren.

Martin Luther als Hofnarr? Es wäre nicht die schlechteste Rolle. In der höfischen Kultur, die ihre eigene Verlogenheit kultiviert hatte, war der Narr der einzige, der jedem die Wahrheit sagen durfte. Und jeder musste sie anhören. Die Herrscher gönnten sich in der Gestalt ihres Hofnarren eine direkte Konfrontation. Vielleicht waren sie sogar ein wenig neidisch auf ihren Spaßmacher. Denn dieser Possenreißer war der einzig freie Mann am Hof. Schon an der Kleidung war deutlich, dass er eine besondere Rolle hatte. Er gehörte nicht dazu, aber er war unentbehrlich.

Die Wahrheit freut nicht jeden. Die Wahrheit bleibt immer – wie der Narr – etwas Fremdes, Ungewöhnliches, Ausnahmehaftes. Menschen fühlen sich von ihr bedroht. Das weiß auch Martin Luther, der sein Narrenspiel hinaus singt „was wol geschehen mocht und solt von weltlicher gewalt odder gemeinen Concilio“.

Der einzige freie Mensch am Hofe war – der Narr. Und er war unentbehrlich, weil die so perfekt in ihre Lüge verstrickten Menschen wenigstens im Spiegel des Narren erkennen wollten, wer sie wirklich sind. Sie waren sich ja durch ihre Verlogenheit selbst ganz fremd geworden. Sie waren sich fremd geworden, obwohl sie den ganzen Tag nur mit sich selbst beschäftigt waren. Der Narr war der einzige, der nicht nur sich, sondern auch die anderen wirklich sah und wahrnahm. Hinter der aufgeblähten Fassade erkannte er die ängstlichen, einsamen Seelen.

Es wäre nicht das schlechteste Erbe der Reformation, die Funktion des Narren zu übernehmen. Ein anspruchsvolles Erbe, denn immerhin gelang es den Narren, ihre Wahrheit unterhaltsam an Mann und Frau zu bringen. Langweilige Narren hatten keine Perspektive am Hof. Trotz allen Humors, oder gerade deshalb: ungefährlich war und ist das Narrendasein nicht. Kaum eine Diktatur wollte ihre Narren ertragen. Bis heute ist es lebensgefährlich, Menschen den Spiegel vorzuhalten.

Trotzdem braucht jede Gesellschaft die Konfrontation. Eine Kirche, die dieses Erbe der Reformation annimmt, steht für die Freiheit. So macht sie Mut. Mut zur Wahrheit. Wir brauchen Narren, wir brauchen Menschen, die uns erkennen, die uns den Spiegel vorhalten. Wir brauchen Menschen, die uns die Angst vor der Wahrheit nehmen. Wir brauchen Menschen, die, trotz aller Angst, für die Narrenfreiheit einstehen. „Ich ... sag das fur mein hoffrecht frey.“ Auch im 21. Jahrhundert.


Der Text war zuerst auf www.r2017.org erschienen und wurde luther2017.de mit freundlicher Genehmigung der Autorin zu Verfügung gestellt. 

PD Dr. Angela Rinn ist Privatdozentin für Praktische Theologie in Heidelberg und Gemeindepfarrerin in Mainz-Gonsenheim. Sie schreibt Kolumnen für Christ&Welt in DIE ZEIT und unter dem Pseudonym Vera Bleibtreu Kriminalromane. Mitglied der Synode der EKD.