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Standpunkt: Michael Müller

Michael Müller, Berlins Regierender Bürgermeister (Bild: Senatskanzlei / Martin Becker)

Luther kam nie bis nach Berlin. Während sein Gegner Johann Tetzel noch im April 1517, wenige Monate vor dem Anschlag der Thesen an die Wittenberger Schlosskirche, in der Residenzstadt weilte, um seine Ablassbriefe zu verkaufen, war Martin Luther das Städtchen an der Spree mit seinen kaum 15.000 Einwohnern keine Reise wert. 

Dennoch wäre Berlin ohne Luther nicht Berlin. So wie er und seine Lehre das Wesen Preußens ganz maßgeblich prägten, hat er auch den Charakter Berlins und seiner Bewohner entscheidend beeinflusst, seit die Bürger von Berlin und Cölln im Februar 1539 die Räte ihrer Städte beauftragten, den Kurfürsten Joachim II. Hektor um Erlaubnis zu bitten, das Abendmahl zu Ostern nach protestantischem Ritus empfangen zu dürfen. Am 1. November 1539 besuchte der Kurfürst in der Spandauer St. Nikolai-Kirche selbst den Gottesdienst. Mit dieser demonstrativen Geste des Landesherrn galt Brandenburg mit den damals noch eigenständigen Städten Berlin und Spandau als Land der lutherischen Kirchenerneuerung.

Man muss nur den Namen eines Mannes nennen, des Pfarrers und Kirchenlieddichters Paul Gerhardt, um das ganze Ausmaß protestantischer Prägung zu ermessen, das Preußen und mit ihm Berlin im Zeitalter des Dreißigjährigen Krieges erfasste. Seine Lieder, vertont von Komponisten wie Johannes Crüger oder Johannes Sebastian Bach, haben Generationen geformt und damit auch wesentlich Berlin und Preußen.

Heute – siebzig Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und fünfundzwanzig Jahre seit den Einheitsfeiern- ist Berlin eine Stadt der religiösen Vielfalt, in der Menschen aus aller Welt mit oder auch ohne Glauben friedlich miteinander leben. Eine der wichtigsten Wegmarken für einen toleranten Umgang der Bekenntnisse hat Friedrich II. gesetzt, mit seinem berühmten Satz: „Ein jeder soll nach seiner Facon selig werden.“ Er ging noch einen Schritt weiter: „Und wenn Türken und Heiden kämen und wollten das Land bevölkern, so wollen wir ihnen Moscheen und Kirchen bauen.“

Der Satz Friedrichs findet im heutigen Berlin täglich seine aktuelle Bestätigung. Bei mehr als 3,5 Millionen Menschen aus mehr als 180 Nationen, die in unserer Stadt leben, braucht es tatsächlich ein großes Angebot an Moscheen und Kirchen unterschiedlicher Bekenntnisse. Die Lange Nacht der Religionen in Berlin zeigt Jahr für Jahr die Vielfalt religiösen Lebens in Berlin und widerlegt so eindrucksvoll die These eines früheren Berliner Bischofs, wonach unsere Stadt „gottlos“ sei. Die Lange Nacht unterstreicht vielmehr die Ansicht von Benedikt XVI, wonach es so viele Wege zu Gott gibt, wie es Menschen gibt. Damit lässt sich übrigens auch wieder eine Brücke zu Luther schlagen, den zeit seines Lebens die Gottsuche beschäftigt hat. Sie liefert gleichsam den Grundton allen Lutherschen Denkens und ermöglicht auch dem heutigen Menschen, sich ganz individuell einem Gott zu nähern, der sich  jedem einzelnen von uns stets anders zeigt. Dies macht jedem ein christliches Bekenntnis möglich, unabhängig davon, ob er eifriger Beter oder regelmäßiger Kirchgänger ist, oder nicht. Luthers Gottsuche ist also ein Zugang zur bunten Welt des Christentums.

Mit dem Kirchentag 2017 in Berlin und Wittenberg ehren wir das Werk des großen Reformators Martin Luther, ohne das der Lauf der Geschichte unserer Stadt eine ganz andere Bahn eingeschlagen hätte. Er hat das Werden Berlins von einer kleinen Residenzstadt zu einer Millionenmetropole entscheidend beeinflusst, den Charakter seiner Bewohner geprägt und ihren Geist verändert.


Michael Müller (SPD) ist der Regierende Bürgermeister von Berlin und Gastgeber des Kirchentages 2017, der in Berlin und Wittenberg stattfinden wird.