(epd): Als „dunkles Kapitel“ bezeichnet der Lutherforscher Bernhard Lohse die Haltung des Reformators zu den Juden. Martin Luther (1482-1546) wandte sich in einer Schärfe gegen das Volk der Bibel, die es noch Jahrhunderte später dem NS-Regime leicht machen sollte, sich auf ihn zu berufen. Auch wenn es keine direkte Linie zu Hitler oder gar zum Holocaust gibt, bleibt Luthers Judenhass für die evangelische Kirche ein schwieriges Erbe. Das gilt auch im Blick auf das bevorstehende Reformationsjubiläum.
Schon vor dem Wittenberger Thesenanschlag hatte sich Luther mit den Juden beschäftigt. Seine erste briefliche Äußerung zum Thema liegt genau 500 Jahre zurück. Am 5. August 1514 stellte er sich in einem Schreiben an Georg Spalatin hinter den Humanisten Johannes Reuchlin (1455-1522), der die Verbrennung des Talmud ablehnte. Luther ließ zugleich keinen Zweifel daran, dass er das jüdische Schrifttum für gotteslästerlich hielt. Er wollte die Juden zum Christentum bekehren. Als er damit scheiterte, verlangte er ihre Vertreibung und das Niederbrennen der Synagogen.
Randerscheinung der reformatorischen Theologie
Luthers „Judenschriften“ fanden weite Verbreitung, galten aber in den Jahrhunderten nach seinem Tod als Randerscheinung der reformatorischen Theologie. Orthodoxe Lutheraner lehnten Judenmission ab, da sie „verstockt“ seien, während sich die pietistische Erweckungsbewegung weiter auch unter den Juden für Jesus als den Messias werben wollte. Oft wurde zwischen dem „frühen“, vermeintlich judenfreundlichen Luther und dem alternden Reformator mit seinen schlimmen Ausfällen gegen das Volk der Bibel unterschieden.
Das führte im 19. Jahrhundert, als über die rechtliche Gleichstellung der Juden in Deutschland diskutiert wurde, zur paradoxen Situation, dass sich sowohl Befürworter als auch Gegner der Judenemanzipation auf Luther berufen konnten. Zugleich wurde dessen theologischer Antijudaismus um so stärker auch von nichtkirchlichen Kreisen verwendet, als man Luther zum nationalen Helden stilisierte. Erstaunlich ist etwa, dass ein radikaler Antisemit wie der evangelische Berliner Hofprediger Adolf Stoecker, Gründer der Christlichsozialen Partei, nur sehr selten auf den Judenhass des Reformators zurückkam.
Luther als Fundgrube der radikalen Nationalisten
Stattdessen wurde Luther zur Fundgrube der radikalen Nationalisten, der Rassenantisemitismus konnte fast nahtlos an den theologischen Antijudaismus anschließen. Heinrich von Treitschkes Parole „Die Juden sind unser Unglück“, später das Leitwort der NS-Bewegung, ist einer Passage aus Luthers „Judenschriften“ entnommen. Der völkische Bayreuther Chefideologe Houston Stewart Chamberlain stilisierte Luther zum Heros eines pseudoreligiösen „arischen“ Christentums. Und Hitler erklärte sich zum Nachfolger des „kleinen unbedeutenden Mönchs“, der den Kampf gegen „eine Welt von Feinden“ gewagt habe.
Nach Hitlers Machtübernahme waren es die nationalsozialistischen Deutschen Christen, die sich Luthers Judenhass auf ihre Fahnen schrieben und propagierten. Als im November 1938 überall im Reich die Synagogen brannten, veröffentlichte der thüringische Landesbischof Martin Sasse unter dem Titel „Martin Luther über die Juden: Weg mit ihnen!“ Auszüge aus Luthers judenfeindlicher Schrift „Von den Juden und ihren Lügen“. Genüsslich wies er darauf hin, dass schon der Reformator die Synagogen hatte anzünden wollen.
Endgültiger Verzicht auf Judenmission
Nach dem Zweiten Weltkrieg und dem millionenfachen Mord an den europäischen Juden kam es in der evangelischen Kirche zu einem radikalem Umdenken. Theologisch drückte sich dies im endgültigen Verzicht auf Judenmission aus, wie sie etwa die rheinische Landessynode 1980 beschloss. Sie stützte sich dabei auf ein Wort aus dem Römerbrief: „Nicht du trägst die Wurzel, sondern die Wurzel trägt dich.“ Auf historischer Ebene begann eine kritische Reflektion von Luthers Antijudaismus sowie der Rolle der evangelischen Christen zwischen 1933 und 1945 sowie ihrer Verantwortung für den Holocaust.
Mit Blick auf das bevorstehende Reformationsjubiläum hat sich die Diskussion inzwischen ausgeweitet und teils auch geschärft. So widersprach jüngst der Bochumer Kirchenhistoriker Johannes Wallmann der verbreiteten Auffassung, Luthers Antijudaismus sei in der Kirche erst nach 1945 überwunden worden. Diese Position vertritt etwa die Reformationsbotschafterin der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Margot Käßmann. Wallmann hingegen argumentiert, Luthers „Judenschriften“ seien über Jahrhunderte unbeachtet geblieben und erst in der NS-Zeit wieder hervorgeholt worden.
Am Versagen der Kirche in den Jahren des „Dritten Reiches“ ändert das aber wenig. Dies müsse auch bei den Feierlichkeiten 2017 offen thematisiert werden, verlangt etwa die evangelische Kirchenhistorikerin Dorothea Wendebourg. Dass die Reformation nicht nur aus Luther bestand, wird indes auch beim Thema „Kirche und Juden“ deutlich: Andere Reformatoren wie Justus Jonas, Martin Bucer, Heinrich Bullinger oder Andreas Osiander hatten eine wesentlich freundlichere Haltung zum Volk der Bibel und widersprachen Luther zum Teil heftig. Auch diese Meinungsbreite gehört zum evangelischen Erbe.