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Auf der Suche nach religiöser Toleranz von Margot Käßmann

Religion
(Foto: epd-bild/Jörn Neumann )

Ein ehrlicher Streit um die Wahrheit wäre auch ein Streit des Interesses, das die Religionen aneinander haben. So ein Streit könnte auch helfen, Konflikte künftig zu entschärfen.

Toleranz und Reformation – die Verbindung dieser drei Worte scheint so gewagt, dass sie zögern lässt. Denn mit der Reformationsgeschichte setzt auch eine Geschichte massiver konfessioneller Rivalität und der Intoleranz gegenüber Andersgläubigen ein. Auf den ersten Blick also passen Reformation und Toleranz definitiv nicht zusammen. Es ist daher ein bewusster zweiter Blick, mit dem ein Zusammenspiel der beiden erprobt werden kann.

Durch Intoleranz wurde der Glaube verdunkelt

Die Reformatoren wussten, die Kirche muss sich beständig erneuern. Eine andauernde geistliche Erneuerung liegt im Wesen des Evangeliums begründet und kennzeichnet einen Wesenszug der Kirche. Also bietet das Reformationsjubiläum 2017 einen willkommenen Anlass, im 21. Jahrhundert die Gedanken, die vor 500 Jahren die Welt veränderten, weiterzuentwickeln. Mit Blick auf die lebensvernichtenden, menschenverachtenden Erfahrungen der Intoleranz gerade des 20. Jahrhunderts wurde deutlich: Durch Intoleranz wurde der Glaube verdunkelt.

Das Evangelium wird nicht „recht gepredigt“, wie es das Augsburger Bekenntnis fordert, wann immer Nächs­tenliebe auf der Strecke bleibt, zum Krieg gerufen wird statt zum Frieden, das Schutzgebot gegenüber den Fremden missachtet wird. Anlässlich des Reformationsjubiläums gilt es zu fragen, was „Christum treibet“, wenn wir nach Wegen suchen, den eigenen Glauben zu bekennen und gleichzeitig Menschen zu respektieren, die einen anderen Glauben haben oder ohne Glauben leben.

Wahre Toleranz findet ihre Grenze an der Intoleranz

Was ist Toleranz? Zum einen meint sie nicht Gleichgültigkeit nach dem Motto, jeder Mensch möge nach der eigenen Fasson selig werden. Das heißt: Toleranz bedeutet Interesse am anderen, am Gegenüber, in diesem Fall an der Religion oder am Nichtglauben der anderen. Und: Toleranz heißt nicht Grenzenlosigkeit. Wahre Toleranz wird ihre Grenze an der Intoleranz finden. Das heißt, Toleranz bezeichnet keine statische ­Haltung, sondern sie meint ein dynamisches ­Geschehen auf Gegenseitigkeit.

Wenn ich über meinen Glauben nachdenke und Luthers These von der Freiheit eines Christenmenschen, die niemandem und zugleich jedermann gleichermaßen untertan ist, komme ich zu dem Schluss, dass ich den Glauben anderer tolerieren kann, gerade weil ich mich in meinem Glauben beheimatet weiß. Mich bedrückt, wie bei Diskussionen immer wieder heftigst mit Koranversen gewettert wird gegen Menschen muslimischen Glaubens. Ich bin keine Korankennerin, aber als Christin ist mir bewusst: ebenso könnten Muslime gewalthaltige Verse aus der Bibel zitieren. Die Frage ist: Ruhe ich mit meiner Glaubensgewissheit in meiner eigenen Religion? Ich bin überzeugt, wer das im Leben kann und praktiziert, hat auch die innere Offenheit, zu respektieren, dass andere anders und anderes oder nicht im religiösen Sinne glauben.

„Wer andere bedroht, kann nicht toleriert werden“

Gewiss, für mich ist die Aussage Jesu: „Ich bin das Licht der Welt“ entscheidende Wegweisung. Aber das bedeutet nicht, dass ich nicht respektieren kann, dass für einen anderen Menschen Mohammed Gottes Prophet ist. Das erschüttert meinen Glauben an Jesus Christus nicht. Eine Glaubenshaltung, die anderen Glauben nicht erträgt – und „tolerare“ meint schließlich auch „ertragen“ –, ist eher schwach, weil sie Angst davor hat, was eine Anfrage gar an eigenem Zweifel auslösen könnte. Wer andere bedroht, mit Worten, Gewalt und Waffen, kann nicht toleriert werden. Einem Dialog ist dann jede Grundlage entzogen.

„Warum sollte ich mich für Ihren Glauben interessieren“

Drei Beispiele, die mich beim Nachdenken angeregt haben:

1. Wer die nordamerikanische Geschichte anschaut, sieht, dass die Frage der religiösen Toleranz sie durchzieht. Schon Anfang des 17. Jahr­hunderts propagierte Roger Williams (1603–1683), ein evangelischer Theologe, aufgrund seiner Erfahrung der Religionskriege in Europa Religionsfreiheit und eine Trennung von Staat und Kirche. Er gründete die Kolonie von Rhode Island als Zuflucht für religiöse Minderheiten – den Puritanern war die Insel ein Dorn im Auge. Williams aber studierte indianische Sprachen und trat für faire Beziehungen zu den Ureinwohnern ein. Er ist mir ein frühes Vorbild für konstruktiven Dialog.

2. Bei einem Essen, zu dem ich am Schabbat in den USA bei orthodoxen Juden eingeladen war, sagte mir der anwesende Rabbiner: „Warum sollte ich mich für Ihren Glauben interessieren? Sie können gern glauben, dass Jesus Gottes Sohn war, aber für mich ist er auf keinen Fall der Messias, und mir liegt auch nicht an einem Dialog darüber, welches Ziel sollte das denn haben?“ Mich ließ das eher bedrückt zurück – ist nicht der Dialog der Religionen eine gewichtiger Beitrag zur Verständigung der Völker, zum Frieden der Welt?

3. In den 25 Jahren, in denen ich in Gremien der ökumenischen Bewegung aktiv war, habe ich erlebt, dass ich immer bewusster lutherisch wurde, je näher ich andere Konfessionen kennen lernte. Die Erfahrung des Anderen hat mir das Bewusstsein für das Eigene gestärkt. Dabei respektiere ich, dass ein russisch-orthodoxer Gläubiger oder eine römische Katholikin ihr Christsein anders praktizieren, andere Zugänge zur gemeinsamen Religion haben. Das breite Spektrum des Glaubens, das schon in der Bibel angelegt ist, zeigt sich in der Vielfalt der Konfessionen. Die ökumenische Bewegung hat immer wieder eine Art „Theologie der Freundschaft“ sichtbar werden lassen, die wächst durch die persönliche Begegnung miteinander, die das Verschiedene positiv sehen kann.

Ziel von Einheit: „Versöhnte Verschiedenheit“

„Versöhnte Verschiedenheit“, ein Begriff, der für die lutherischen Kirchen im ökumenischen Gespräch das Ziel von Einheit umschreibt, könnte passend sein auch für die die Suche nach einer theologischen Konzeption von religiöser Toleranz: Das Eigene lieben und leben, das Verschiedene respektieren und beides so miteinander versöhnen, dass gemeinsames Leben möglich ist. Ein so definierter Begriff ließe sich mit Blick auf Menschen ohne Glauben erweitern, indem sie als „verschieden“ respektiert und nicht von Vornherein als defizitär beschrieben werden. In einer säkularen Gesellschaft ist das ein zunehmend wichtiger Aspekt. Im Gegenzug ist selbstverständlich Voraussetzung, dass religiöse Menschen ebenso Respekt finden. Es scheint in der säkularen Gesellschaft manches Mal notwendig, das einzufordern.

Die Einwände, die sich gegen jedes dieser drei Beispiele einlegen lassen, kenne ich natürlich. Zum einen: Was ist mit dem Missionsbefehl Matthäus 28? Aber in alle Welt zu gehen und das Evangelium zu verkündigen, heißt doch genau das: zeigen, dass ich meinen Glauben mit Freude lebe, hier Lebenskraft und Halt finde. Wo das begeisternd, überzeugend, ansteckend wirkt, werden andere sich fragen, ob es auch ihr Weg zu Gott oder mit Gott sein kann. Wo das auf andere verachtend wirkt und ich mich hochmütig und auf Abgrenzung bedacht verhalte, wird die religiöse Überzeugung, die ich teile, wenig einladend erscheinen.

Es wird Zeit, dass Religionen Konflikte entschärfen

Zum anderen höre ich: „Die“ (gemeint sind meist die Muslime) seien intolerant, gewalttätig, hetzten gegen Christen und verfolgten sie. In der Tat, Christenverfolgung ist ein hochbrisantes Thema, und unsere Geschwister im Glauben in aller Welt brauchen unsere Solidarität. Aber es ist absurd, alle Muslime mit einem kleinen Prozentsatz fundamentalistischer, gewaltbereiter, ideologisch verirrter Gewalttäter gleichzusetzen. Fundamentalismus führt in jeder Religion in die Irre. Mit manchen Aussagen im Namen des christlichen Glaubens aus dem amerikanischen Präsidentschaftswahlkampf möchte ich als Chris­tin ebenso wenig identifiziert werden wie fromme Muslime mit islamistischen Hetzern.

Hass und Angst zu schüren, ist und bleibt ein Irrweg in jeder Religion. Es gibt nicht „wir“ und „die“, sondern Menschen verschiedenen Glaubens und nichtreligiöse Menschen, die ihre tiefen Überzeugungen von Freiheit, Toleranz und Verantwortung so umzusetzen haben, dass ein Leben in Frieden und Gerechtigkeit für alle Menschen auf dieser Welt möglich wird. Da ist Vernunft die beste Ratgeberin gegen Verführung, Ideologie und Angst.

Der „Streit um die Wahrheit“

Bei alledem führe ich gern einen intensiven „Streit um die Wahrheit“. Es ist ein Streit des Interesses, das wir aneinander haben. Ich kann das Kirchenverständnis der römisch-katholischen Kirche nicht nachvollziehen, die russische Orthodoxie erscheint mir zu erstarrt, das Judentum versuche ich zu begreifen, der Islam irritiert mich in vielem, der Buddhismus bleibt mir fremd. Aber mich interessiert der Glaube anderer, und ich halte es für entscheidend, dass ­Religionen miteinander im Gespräch bleiben. Intoleranz und Rechthaberei haben allzu oft Öl in das Feuer politischer und ethnischer Konflikte gegossen. Es wird Zeit, dass Religionen ein Faktor bei der Konfliktentschärfung werden, weil sie eine Toleranz kennen, die Unterschiede nicht mit Gewalt vernichten will, und sich als kreative Kräfte verstehen, die unsere Welt und die Zukunft menschenfreundlich gestalten wollen und können.

Für mich persönlich bleibt Jesus Christus der Weg, die Wahrheit und das Leben. Das ist meine Glaubensgewissheit, die ich gern in der Gemeinschaft meiner Geschwister im Glauben lebe, in der Welt praktiziere, im Gottesdienst feiere. Es ist meine Freiheit, in der ich niemandem untertan bin. Gerade deshalb kann ich respektieren, dass andere Menschen anders glauben oder nicht glauben. Das ist meine Freiheit, in der ich jedermann untertan bin. Und am Ende kann ich Gott überlassen, wie dieses Geheimnis der verschiedenen Religionen sich einst nach dieser Zeit und Welt lüften wird.


Der Text „Tolerant aus Glauben“ ist erschienen in „Schatten der Reformation“. Das Magazin (DIN A 4, 79 Seiten) gibt es als PDF-Download oder kann kostenlos beim Kirchenamt der EKD (Herrenhäuser Str. 12, 30419 Hannover, E-Mail: jessica.jaworski@ekd.de) bestellt werden.