Martin Luther war sehr auf seine Region und die Wahrnehmung seines Kontextes beschränkt oder, wie sein Biograf Heinz Schilling (2012) schreibt, „von den neuen Welten seltsam unberührt“. Die Botschaft aber von der Freiheit eines Christenmenschen, von der Bildung, die für alle gilt, von der Ermutigung, eigenständig den Glauben zu bekennen und in persönlicher Verantwortung in der Welt umzusetzen, sie ging in alle Welt.
Reformation – ein ständiger Prozess
Vom 20. Mai bis zum 10. September 2017 wird in Wittenberg eine „Weltausstellung Reformation“ stattfinden. Bewusst hat die Projektleitung entschieden, nicht von „der“ Reformation zu sprechen. Es soll Raum sein für unterschiedliche Zugänge zu Reformation in Kirchen, in Religionen, aber auch in Staat und Gesellschaft. Klar ist: Reformation ist kein abgeschlossener Vorgang, sondern ein fortdauernder Prozess. Und Reformation ist kein rein protestantischer Fortgang, vielmehr haben sich alle immer wieder erneuert. Die römisch-katholische Kirche etwa ist heute deutlich verändert gegenüber der Zeit der Auseinandersetzung Martin Luthers mit ihr, hat sie doch schon beim Trienter Konzil den Ablass gegen Geld abgeschafft und mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil die Messe in der Volkssprache eingeführt. Und auch die Kirche der Reformation hat immer wieder Reformen gebraucht, beispielsweise mit Blick auf ihr Verhältnis zum Judentum oder zur Frage des manchmal notwendigen Widerstandes gegen die Obrigkeit. Auch Gesellschaft und Staat sind immer wieder reformbedürftig.
In dieser Weite haben wir der Weltausstellung den Titel „Tore der Freiheit“ gegeben. Wer den Ring um den Stadtkern von Wittenberg anschaut, wem erste Bilder vor dem inneren Auge entstehen, wie Menschen 2017 in diese Stadt kommen, um Teil der Reformationserfahrung zu werden, dem kommt schnell das Thema Tore in den Sinn. Sieben Zugänge wird es zur Innenstadt geben. Es sind die Tore, durch die Menschen gehen werden, um nach Wittenberg zu kommen – nein, mit der Heiligen Stadt Jerusalem soll das nicht verglichen werden. Es geht darum, an diesen Ort zu kommen, der einen so besonderen Klang hat. Hier, in dieser kleinen Stadt, wurden vor 500 Jahren Gedanken entwickelt, die so viel Kraft entfalten konnten, dass sie die Welt veränderten. In diesen Toren sind sie sich täglich begegnet, die Protagonisten: Philipp und Katharina, Martin und Elisabeth. Es ist der Ort, aus dessen Tore die Botschaft von der Freiheit eines Christenmenschen herausging, aus dessen Tore die Kunde kam, dass niemand Ablass gegen Geld kaufen muss, sondern Gott uns aus Gnade allein Lebenssinn zusagt. Von hier aus gingen die Schriften Luthers in alle Welt.
Machet die Tore weit
Und es gibt die Tore real in der Stadt: Zu den Cranach-Höfen, zum Gefängnis, das Ort von Kunst und Kultur werden soll … Tore spielen schon im alten Israel eine große Rolle. Sie schützen die Stadt (5. Mose 3,5), die Tore der Feinde zu besitzen, bedeutet große Macht (1. Mose 22,17). Tore der Freiheit gibt es also ebenso wie Tore der Deutungshoheit. Vor dem Tor der Stadt versammeln sich die Menschen (1. Mose 23,10), im Tor wird Recht gesprochen (5. Mose 16,18; 17,8). Deshalb gibt es auch die Tore der Gerechtigkeit: „Tut mir auf die Tore der Gerechtigkeit, dass ich durch sie einziehe und dem HERRN danke“ (Psalm 118,19).
Es wird gemahnt, Recht zu sprechen in den Toren: „Das ist‘s aber, was ihr tun sollt: Rede einer mit dem andern Wahrheit und richtet recht, schafft Frieden in euren Toren.“ (Sach 8,16) Tore der Gerechtigkeit sind demnach ein Thema. Als die Tore Jerusalems vom Feuer zerstört werden, ist das ein Erlebnis tiefster Erschütterung (Neh 2,3), schutzlos sind nun die Menschen dem Feind ausgeliefert. Nun geht es darum, Wache zu halten an den Toren, um die Menschen zu schützen; Torhüter zu sein, war ein bedeutungsvoller Beruf (Neh 12,25). Tore der Wachsamkeit werden gebraucht.