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Tagung „Reformation und Politik“: Reaktionen auf epochale politische Ereignisse

Kirchenhistoriker Thomas Martin Schneider: „Evangelische Milieus waren anfällig für deutsch-nationales Gedankengut“

Plenum der Tagung "Reformation und Politik"
(Foto: Landschaftsverband Rheinland)

Wie die evangelische Kirche auf epochale politische Ereignisse der vergangenen 200 Jahre reagierte, war Thema einer Tagung von Evangelischer Kirche im Rheinland und Landschaftsverband Rheinland in Düsseldorf. „Reformation und Politik – Bruchstellen Deutscher Geschichte im Blick des Protestantismus“ lautete der vollständige Titel der Tagung, mit der die rheinische Kirche den Schwerpunkt des Themenjahres 2014 innerhalb der Lutherdekade aufgriff.

Anfällig für deutsch-nationales Gedankengut

In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts habe die evangelische Kirche geglaubt, sich einer politischen Positionierung enthalten zu müssen, sagte der Koblenzer Kirchenhistoriker Prof. Dr. Thomas Martin Schneider. Entgegen dieser Selbsteinschätzung seien evangelische Milieus jedoch anfällig für deutsch-nationales Gedankengut gewesen und hätten das als politische Neutralität missverstanden.

Auch die Bekennende Kirche habe geglaubt, sich auf innerkirchliche Themen beschränken zu können. Sie wollte sich vom totalitären NS-Staat keine politische Fragestellungen aufnötigen lassen, sagte Schneider. Auch mit der Barmer Theologischen Erklärung habe sie keine politischen Folgerungen verbunden: „Ein politisches Programm lag nicht im Denkhorizont der Teilnehmenden.“

Warum etwa meldete sich die Bekennende Kirche ab 1933 nicht deutlich gegen den nationalsozialistischen Rassenwahn und die NS-Politik zu Wort? Um ihre Handlungsfähigkeit als Kirche nicht zu verlieren, sagte der Kölner Theologieprofessor Siegfried Hermle. So seien zaghafte Anläufe zu einem öffentlichen Protest auf die Reichspogromnacht bereits in den eigenen Reihen gescheitert.

Und warum verhielt sich die Mehrheit der Kirchenmitglieder gegenüber der nationalsozialistischen Ideologie still, obwohl diese doch offensichtliche antichristliche Elemente enthielt? Neben der neulutherischen Zwei-Regimente-Lehre, nach der die Kirche sich nicht in die Angelegenheiten des Staates einzumischen habe, führte Hermle als Grund eine antijüdische Stimmung breiter Bevölkerungsschichten an.

Revision erst nach 1945

Auch Mitglieder der Bekennenden Kirche seien mit einer Politik einverstanden gewesen, die einen in ihren Augen vorgeblich zu großen Einfluss der Juden auf die Kultur oder das Finanzwesen zurückdränge. „Nur einzelne Christen solidarisierten sich, der verfasste Protestantismus hat der Rassepolitik nichts entgegengesetzt“, sagte Hermle.

Bis in die Zeit nach dem Zusammenbruch der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft 1945 sei für evangelische Christinnen und Christen ein stabiles Vertrauen in die Obrigkeit charakteristisch gewesen, sagte der Marburger Kirchenhistoriker Prof. Dr. Jochen-Christoph Kaiser auf der Tagung. Dieses Vertrauen habe sich im Kaiserreich vertieft und sei verbunden gewesen mit einer nationalprotestantischen Gesinnung, die neben antidemokratischen und antikatholischen auch antisemitische Tendenzen enthielt.

Kaiser: „Die völkische Bewegung erschien vielen Protestanten als sehr attraktiv. Das antichristliche Neuheidentum kam nicht in den Blick.“ Ihre Haltung zum Staat habe die evangelische Kirche erst nach 1945 grundlegend revidiert und dabei erstmals auch demokratische Strukturen und weltanschauliche Pluralität akzeptiert.

Sorge um soziale Gerechtigkeit

Sprung von der Geschichte ins aktuelle Geschehen. Politik muss wertegebunden sein, die Bergpredigt ist zwar keine unmittelbare politische Handlungsanleitung, aber ein „Kompass“. Das hat der Minister für Arbeit, Integration und Soziales des Landes Nordrhein-Westfalen, Guntram Schneider, in seinem Vortrag „Kirche und Politik“ erklärt. Das Land sei zunehmend „durch Anschläge auf die soziale Gerechtigkeit“ geprägt, beklagte der Minister und verwies auf 2,8 Millionen Bürgerinnen und Bürger in NRW, die an der Armutsgrenze leben.

„Die Fliehkräfte in unserer Gesellschaft nehmen zu. Neben der materiellen Armut gibt es auch kulturelle und Bildungsarmut“, erklärte Guntram Schneider in der Johanneskirche in Düsseldorf. Siehe 7,5 Millionen Analphabeten in Deutschland. Lebens- und Bildungschancen müssten wieder gerecht verteilt werden, forderte der SPD-Politiker. Im Blick auf rund 230.000 Langzeitarbeitslose in NRW verlangte Schneider neue Chancen auch für die Schwächsten, denn Teilhabe an Arbeit sei wichtig.

Flüchtlingspolitik überdenken

Der Minister forderte überdies ein Überdenken der Flüchtlingspolitik. „Das Boot ist nicht voll.“ Deutschland leiste finanziell bislang anteilig gesehen nicht am meisten, beispielsweise im Vergleich zum türkischen Engagement für syrische Bürgerkriegsflüchtlinge oder auch zu den Flüchtlingszahlen in Belgien. Im Blick auf Zuwanderer aus Rumänien und Bulgarien sagte Schneider: „Ich weigere mich, diese Menschen zu diskreditieren.“

Niemand verlasse gern seine Heimat und 90 Prozent dieser Zuwanderer wollten nur, dass es ihren Kindern einmal besser geht. Wie einst die Menschen aus den Ostgebieten. Er hoffe, dass diese Themen bei den Europa-Wahlen am 25. Mai nicht zu Erfolgen rechter Parteien führen.

Informationen

Autor:luther2017.de Quelle:EKiR Datum:28-04-14
Schlagworte:
Reformation und Politik, Martin Luther, Lutherdekade, Themenjahr 2014, Bekennende Kirche, Evangelische Kirche im Rheinland, Guntram Schneider, Nationalsozialismus, Politik

Themenjahr 2014

Glaube und Macht, Gewissensfreiheit und Menschenrechte – das sind Themen der Reformation und zugleich der Gegenwart.