Lässt sich sagen, dass Luther immer stärker politisiert wurde, je größer der zeitliche Abstand zur Reformation war?
Lehmann: Nein. Die Motive haben sich geändert, aber der Grad der Instrumentalisierung war seit jeher außerordentlich hoch. 1917 etwa, in der Endphase des Ersten Weltkrieges, war keine Vokabel zu schwach, um die Erinnerung an Luther propagandistisch zu verwerten, damit die Deutschen weiterhin an den Sieg über ihre Feinde glauben sollten.
Nun steht 2017 die 500-Jahrfeier der Reformation an. Wie lässt sich einem neuerlichen Missbrauch begegnen?
Lehmann: Das ist eine große, um nicht zu sagen die eigentliche Herausforderung. Zunächst einmal sollte man einen Schritt zurückgehen und überlegen: Wie war eigentlich die tatsächliche Bilanz der Konfessionsspaltung in Europa? Hier gilt es nachdrücklich zu betonen, dass diese Bilanz keinesfalls ausschließlich nur positiv war, keinesfalls nur eine Art Einbahnstraße in Richtung Freiheit und Erneuerung darstellte. Im Gegenteil: Im Zuge der Konfessionskriege verloren viele tausend Menschen ihr Leben, viele Tausend mussten ihre Heimat verlassen. Deshalb scheint es mir notwendig, 2017 zunächst und vor allem an die gegenseitigen Verletzungen in der Vergangenheit zu erinnern. Theologisch gesprochen: Wechselseitiges Verzeihen wäre 2017 somit das erste Gebot der Stunde, gar Buße für die Fehlentwicklungen in der Vergangenheit. Und wenn man erkannt hat, dass die Erinnerung an 1517 nicht nur positiv ist, sollte man Schritt für Schritt versuchen, sich über die Ursachen und Folgen der Spaltung klarzuwerden – in der Hoffnung, dass diese überwunden werden kann.
Welcher Martin Luther stünde dabei im Zentrum?
Lehmann: Ein tiefgläubiger Luther, der eine theologische Alternative zum Renaissancepapsttum seiner Zeit bot.
Die Geschichte der Reformation ist auch geprägt von Heroisierungen, Mythenbildungen, Legenden. Sie haben jüngst der EKD-Reformationsbotschafterin Margot Käßmann vorgeworfen, sie schöpfe aus dem „Arsenal der Lutherlegenden". Doch steckt nicht in jeder Legende auch ein wahrer Kern?
Lehmann: Ich darf Ihnen einige Beispiele nennen, etwa die Legende vom Apfelbäumchen. „Wenn morgen die Welt unterginge", soll Luther gesagt haben, „würde ich heute noch ein Apfelbäumchen pflanzen." Diese Legende ist zuerst 1944 schriftlich belegt. Der Satz war 1944 als Trost gemeint, vielleicht auch als Durchhalteparole in der Endphase des Weltkriegs. Der wahre Kern dieser Legende ist also nicht bei Luther zu suchen, sondern in der Mentalität, gar der Verzweiflung der letzten Kriegsjahre. Oder die Legende von Luthers Wurf mit dem Tintenfass nach dem Teufel: Sie taucht zuerst in den 1580er Jahren auf. Angesichts der schwierigen Lebensverhältnisse herrschte in Deutschland im ausgehenden 16. Jahrhundert eine regelrechte Teufelshysterie. Viele Bücher über den Teufel sind damals erschienen, mehr als je zuvor und jemals später. So lag es nahe, dass einige Zeitgenossen auch darüber spekulierten, ob der Teufel nicht mit aller Macht versucht habe, Luther an der Übersetzung des Neuen Testaments in die Muttersprache der Deutschen zu hindern. Sie glaubten, Luther habe sich auf seine Weise durch den Wurf mit dem Tintenfass nach dem Teufel gewehrt. Der wahre Kern dieser Legende ist also die von Angst geprägte Mentalität der deutschen Protestanten eine Generation nach Luthers Tod.
Auch das Reformationsgeschehen selbst ist ja von Legenden umrankt …
Lehmann: Was sich wahrscheinlich am 31. Oktober 1517 in Wittenberg zutrug, kann ich hier nicht im Detail schildern. Es scheint inzwischen aber geklärt zu sein, dass Luther die 95 Thesen mit der Post als Beilage zu Briefen an seine kirchlichen Oberen verschickt und nicht an die Tür der Wittenberger Schlosskirche angeschlagen hat. Erst nachdem die kirchliche Hierarchie nicht reagierte, hat er die Thesen an weitere Personen geschickt. Seine Freunde übersetzten und druckten die Thesen. Der wahre Kern der Legende von Luther mit dem Hammer ist somit der militante antikatholische Protestantismus späterer Zeit, der an einen Luther glaubte, der sich bereits am 31. Oktober mit einem demonstrativen Akt von seiner Kirche abwandte. Dieser Luther ist nicht der Luther vom Herbst 1517.
Luther war an jenem 31. Oktober noch eher Reformkatholik als Reformator?
Lehmann: Ja, vor allem. Ab November 1517 setzte zwischen Luther und den verschiedenen Vertretern seiner Kirche allerdings eine komplizierte Auseinandersetzung ein, und erst im Lauf der folgenden drei bis fünf Jahre wuchs Luther theologisch in die Statur des großen Reformators hinein. Das Jahr 1521 ist in diesem Zusammenhang wichtig. Der häufig zitierte Satz „Hier stehe ich und kann nicht anders", den Luther vor dem Kaiser auf dem Wormser Reichstag gesprochen habe soll, ist so aber nie gefallen. Dieser Satz wurde Luther schon wenige Jahre später zugeschrieben, Bei diesem Fall ist also die Zeitspanne zwischen Ereignis und Legende nicht allzu groß. Was Luther in Worms sagte, klingt anders: Mein Gewissen ist in Gottes Wort gefangen, ich kann und will nichts widerrufen, weil es gefährlich ist, etwas gegen das Gewissen zu tun. Das ist ein nachdenklicher, frommer Mensch, der so spricht, kein trotziger Landsknecht. Auch hier erfasst die Legende also nicht den eigentlichen historischen Sachverhalt.