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Bild und Bibel – Zwei zentrale Kommunikationsmittel der Reformation von Thies Gundlach

Die Reformation als Medienereignis und Revolution des öffentlichen Raums

Regalwand voller Bücher
(Foto: epd-bild/Hartmut Schmidt)

„Wer lesen kann, ist klar im Vorteil!“ – Dieser Satz, mit dem heute meine Kinder altklug sticheln, könnte auch als Erfindung der Reformationszeit durchgehen. Daran will das Themenjahr 2015 erinnern, dessen äußerer Anlass, streng genommen, ein Datum der Kunstgeschichte ist: der 500. Geburtstag des Renaissancemalers Lucas Cranach d. J. am 4. Oktober 2015. Aber mit dem Gespann Bild und Bibel kommen zwei der zentralen Kommunikationsmittel in den Blick, die wesentlich zur Erfolgsgeschichte der Reformation beigetragen haben.

So gibt das Themenjahr 2015 nicht nur Gelegenheit, den Wechselwirkungen zwischen Theologie und Kulturgeschichte auf die Spur zu kommen, sondern es kommt die Reformation als Medienereignis in den Blick, das vom Buchdruck über Flugblätter bis hin zu lukrativen Künstlerwerkstätten eine ganz neue Form der Öffentlichkeit schuf. Und dass uns die Fragen nach den aktuellen Wechselwirkungen zwischen Glauben und Kultur auch heute noch beschäftigen, ist mit Händen zu greifen, denn auch für die „Digital Natives“ gilt: Wer lesen kann, ist klar im Vorteil, schon weil er sonst die heutigen (laufenden) Bilder des biblischen Glaubens in den zeitgenössischen Kommunikationsmedien nicht zu lesen und wiederzuerkennen vermag.

Der Buchdruck ersetzt den geistlichen Stand

Die Reformation war auch ein Medienereignis, in dem einschneidende theologische Erkenntnisse und kommunikationsgeschichtliche Fortschritte zusammenfielen und sich gegenseitig bedingten. Die Massenproduktion von Flugblättern und Flugschriften verhalf der Reformation zum Durchbruch, und umgekehrt wurden mit der Reformation diese neuen Printprodukte zu einem Kommunikationsstandard. Entsprechend entsteht mit der Reformation ein neues Verständnis von Öffentlichkeit; die durch den Buchdruck realisierte, zunehmend ständisch und sozial entgrenzte Öffentlichkeit ist avisierter Kommunikationsraum: Öffentlichkeit in diesem Sinne ist daher „nicht nur ein moderner Analysebegriff, sondern eine Forderung der Zeitgenossen selbst.“(1)

Wichtigstes Format für diese neu entstandene Öffentlichkeit ist der Buchdruck. Er ersetzt gleichsam den geistlichen Stand als alleinige heilsvermittelnde Institution. Indem Gottes Wort prinzipiell jedem, der sich einen damals sehr teuren Druck leisten konnte und der des Lesens mächtig war, unmittelbar zugänglich werden kann, rücken die Bibel und ihre (erzählten) Bilder ins Zentrum.

Das Buch als lukratives Handelsgut

„Gott kommt im Gleichnis als Gleichnis zur Welt“, lautet Jahrhunderte später die Formel des Theologen Eberhard Jüngel. Will sagen: Die Bibel wird als „Trägerin“ des heilsamen Wortes Gottes frei zugänglich. Nicht zuerst in den Sakramenten, auch nicht zuerst durch Befolgung der „evangelischen Räte“, wie die Mönche und Nonnen sie lebten, sondern in, mit und unter den Buchstaben der gedruckten Bibel kommt Gott in die Welt und in mein Herz. Seitdem gilt: Wer die Bibel liest, ist Gott nahe, er findet Weisheit und Verheißung, Trost und Mahnung, Sündenerkenntnis und Erlösungsgewissheit – das ganze geistliche Leben. Denn die Bibel ist Transporteur des Heiligen Geistes, „wann und wo es Gott gefällt“.

Diese Verschiebung hatte fundamentale Folgen: Das Buch wurde zum lukrativen Handelsgut. Die Bücher bezogen sich nun auf aktuelle Themen; es wurde nicht mehr nur Wissen, sondern auch Meinung transportiert. Die Autoren konnten größere Bekanntheit erlangen und wurden zu herausragenden Projektionsflächen für die Hoffnungen und Ängste der Zeit. Dass noch heute Martin Luther als Junker Jörg ebenso idealisiert wie als angefochtener Tintenfassschleuderer erinnert wird, hat mit dieser immensen Prägekraft der Bilder zu tun.

Sodann wurde die Sprache nicht nur massentauglicher, indem die Texte vom Latein zur Volkssprache wechselten, sondern das Alltagsdeutsch der sächsischen Kanzlei, das Luther sprach, wurde durch die weite Verbreitung gleichsam zur gesamtdeutschen Sprache und damit literaturfähig. Zuletzt aber hatte jene Entwicklung auch Folgen für die individuelle Bildung, denn die Alphabetisierung der gesamten Bevölkerung – Mädchen wie Jungen! – wurde zum neuen Bildungsideal.

Hören auf Gottes Wort heilsamer denn Sehen

Zugleich hat die Reformation und ihre Bibeltreue eine neue Bildproduktion freigesetzt. Waren in den Jahrhunderten zuvor als biblia pauperi die Wände der Kirchen mit Szenen der Bibel ausgemalt worden, entstanden nun Meisterwerke der Altargestaltung wie z. B. der Reformationsaltar von Lucas Cranach d. Ä. in der Stadtkirche in Wittenberg. Das Werk verkündet mit seinen Bildern die Theologie der Reformatoren, es zeigt die Sakramenten-­Reform, indem nur Taufe, Beichte, Abendmahl ausgestaltet wurden, und die Christus­-Predigt als Mitte aller Verkündigung des Wortes Gottes. Diese und viele weitere Bilder belegen, welche Macht die Reformatoren und die Künstler dem Bild zurechneten und welches kreative Potenzial der neue Glaube bei den Kunstschaffenden geweckt hat. Die neue Lehre war inspirierend, es lockte manch lukrativer Auftrag, und das Bild bewies erfolgreich seine Funktion als aussagekräftiges Kommunikationsmittel.

Andererseits hat die Reformation immer auch einen kritischen Umgang mit Bildern gepflegt. Denn das (innerliche) Hören auf Gottes Wort galt als heilsamer denn das (äußerliche) Sehen. Eine neue Orientierung an der biblischen Botschaft und an der Person Jesu Christi hat auch im Blick auf die Bilder zu einer „normativen Zentrierung“ geführt (Berndt Hamm).

Dazu gehörte auch eine Praxis, die trotz aller Entmythologisierung durch die Fachleute immer noch unter dem Stichwort „Bildersturm“ firmiert: Kunstwerke und Schmuck wurden aus den Kirchen entfernt oder zerstört, weil und soweit sie nicht den theologischen Kriterien der Wort- bzw. Christuskonzentration entsprachen. Gleichgültig aber, ob die neue Bildproduktion in den Mittelpunkt gestellt wird oder die mitunter sehr radikal auftretende Bildkritik, in beiden Fällen gilt: Die Reformation macht aus Bildern Mittel der „Verkündigung“ im Blick auf eine imaginierte Öffentlichkeit; die kommunikative Schlacht gegen die kirchenpolitischen Gegner bebildert entsprechend auch Polemik, Abwertung und Verhöhnung.

Der Protestantismus hat seine Angst vor den Bildern verloren

Heute dagegen haben die Bilder schon seit ca. hundert Jahren „das Laufen gelernt“; und der Protestantismus, der lange Zeit als wortzentrierte Gestalt von Religion galt und die Menschen zu Hörenden machte, erlebte hier eine gewichtige Infragestellung. Die Kirche des Wortes in einer Kultur der (immer schnelleren) Bilder, das schien auf den ersten Blick eine Krise des Wortes zu bedeuten. Nicht wenige kulturpessimistische Urteile gegen die Bild- und Filmindustrie im 20. Jahrhundert (Stichwort „Hollywood“) stammen aus protestantischer Feder.

Aber im Laufe der Zeit hat sich die Einsicht durchgesetzt, dass Bild und Film auch Chancen der Verkündigung bilden, weil ihre Erzählmuster biblische Themen aufgreifen und neuartig inszenieren. Der Protestantismus hat seine Angst vor den Bildern verloren, ohne unkritisch die Gefahr der „Blindheit durch Bilder“ zu verkennen. Denn die Kehrseite der vielen Bilder zeigt die Beobachtung, dass nicht nur die Kirche selbst zu einem starren Bild geworden ist, das der Realität von Kirche nicht mehr entspricht; die Kirche ist mitunter gefangen in Bildern von ihr.

Zum anderen aber zeigen sich immer deutlicher die Fähigkeiten zur Manipulation von Bildern, die nur noch vermeintlich ein Bild der Realität spiegeln. Im Zusammenhang mit Hollywood­-Filmen mag der eine oder andere diese technische Bildbearbeitung genießen, im Blick auf Information und Bildberichterstattung ist dies eine gefährliche Fähigkeit. Die bilderkritische, dem Wort vertrauende Seite von Religion muss weiter hin als Korrektiv den „Bilderwelten“ gegenüberstehen, darin hat die Kirche eine bleibende Aufgabe.

Menschenwort und Gotteswort in einzigartiger Weise nahe

Zuletzt aber geht es auch darum, die biblischen Texte und Szenen selbst ins Bild zu bringen: Die Geschichten sind in die Tiefe des jüdisch­christlich geprägten Abendlandes als Bildmaterial eingesickert und werden dort immer wieder abgerufen. Niemand kann die Geschichte der abendländischen Kunst und auch ihrer Literatur verstehen, ohne sie intensiv zu kennen; und niemand kann die heutige Hollywood- oder Youtube­-Szenerie lesen, ohne dieses Bilderreservoir zu kennen.

Und diese eher kulturhermeneutisch wichtige Einsicht wird auch nicht dadurch aufgehoben, dass die Menschen in der multikulturellen und ­religiösen Welt auch andere Bildreservoirs kennen sollten. Denn nur wenn man die eigenen Traditionsbestände wirklich kennt, kann man die Geschichten der anderen auf der richtigen Ebene lesen und verstehen. Es sind Bilder und Geschichten aus der Tiefe einer Kultur, die die Seelen der Kinder weit und offen machen, ihnen von Freundschaft und Liebe, auch von Bosheit und Sünde erzählen und sie so vorbereiten auf die Wahrheit des Lebens.

Die Bibel ist neben allen kulturrelevanten Bedeutungen auch ein Seelen­-Buch, denn die Seele denkt und träumt und glaubt in Bildern, in Geschichten und Erzählungen, niemals nur allein mit dem Wort, der Ratio und der vernünftigen Einsicht. Die Bibel ist auch das Bilderbuch einer von Gott geprägten Humanität, die große Gesten und wunderbare Verwandlungen kennt, die Heil und Versöhnung, Frieden und Großmut als Möglichkeiten des Menschen eröffnet, indem sie sie erzählend erinnert. Das Themenjahr „Reformation – Bild und Bibel“ sollte bei aller kulturhermeneutischen Anlage und aller Freude über ein Cranachjahr nicht vergessen, dass die Wurzel vieler Bilder der Reformationszeit die neu entdeckte Liebe zur Bibel ist, jenem seltsamen Buch, in dem sich Menschenwort und Gotteswort in einzigartiger Weise nahe sind.

(1) Berndt Hamm, Die Reformation als Medienereignis, in: Jahrbuch für Biblische Theologie 11, Neukirchen-Vluyn 1996, S. 137-166: 166.


Dr. Thies Gundlach ist Vizepräsident des Kirchenamtes der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) in Hannover. Er leitet die Hauptabteilung II „Kirchliche Handlungsfelder“.

Der Text ist erschienen im EKD-Magazin „Reformation – Bild und Bibel“. Das Magazin (DIN A 4) gibt es als PDF-Download oder kostenlos beim Kirchenamt der EKD (Bestelladresse: Herrenhäuser Str. 12, 30419 Hannover, E-Mail: jessica.jaworski@ekd.de). Weitere Texte zum Themenjahr „Reformation – Bild und Bibel" sowie Materialien zum Download finden sich unter www.reformation-bild-und-bibel.de/.