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Geheimunternehmen in höherem Auftrag Von Kilian Kirchgeßner (epd)

In einem verborgenen Tal wächst eine Rose, die keine Dornen hat. Gläubige beten inmitten der Natur. Im Geheimen drucken sie die Bibel in tschechischer Sprache: Eine Reise zu den Wurzeln der böhmischen Reformation macht Geschichte lebendig.

Die Kirche im mährischen Ort Kralice: Die Inschriften an der Wand zum Lob Gottes stammen aus der Zeit der Böhmischen Brüder. (Bild: epd-Bild)

Die hölzerne Druckerpresse ächzt. Kräftig zieht Museumsmitarbeiterin Monika Dolezalova die Winde an und erzählt: „Vor 400 Jahren ist hier schon gedruckt worden, auf handgeschöpftem Papier, das heimlich in Fässern hergebracht wurde“. Die alte Druckerei war ein Geheimunternehmen in höherem Auftrag: Hier wurde eine Bibel in tschechischer Sprache gedruckt, die „Kralitzer Bibel“. Die Glaubensgemeinschaft der Böhmischen Brüder, deren Wurzeln in den frühen Jahren der Reformation liegt, wollte Gottes Wort für alle verfügbar machen.

Ein Leben der Bibel gewidmet

Heute erinnert in Kralice ein Museum an die Druckerei. Die Gemeinde im Süden Tschechiens zählt zu den Orten, die untrennbar mit der böhmischen Reformation verbunden sind. Denn schon rund 100 Jahre vor Martin Luther hat sich im heutigen Tschechien eine Bewegung gegründet, die sich von Rom absetzen wollte. Sie forderte eine Kirche, die der weltlichen Macht entsagte. Vordenker war Jan Hus, verbrannt vor 600 Jahren auf dem Konstanzer Konzil.

Wer zurück will zu den Anfängen der Glaubenserneuerer, der muss von Kralice aus zweieinhalb Stunden nach Norden fahren. Über gewundene Straßen geht es bis nach Kunvald im Adlergebirge an der Grenze zu Polen. In dieses weltabgewandte Hochtal kamen 1457 Gläubige, um ein Leben zu führen, das nur der Bibel gewidmet sein sollte. Brüderunität nannten sie sich oder schlicht „Böhmische Brüder“.

Weit weg von der Hauptstadt Prag hatte ihnen der König hier einen Flecken Land zugewiesen. „Wegen ihres Glaubens haben sie die weltlichen Vorteile aufgegeben und auch ihre Heimat – nur damit sie ehrenhaft in der Bibel lesen, ihre Gesänge singen und beten können“, sagt Petr Silar, ein Mann von fast 60 Jahren mit Vollbart und kräftiger Statur. Er verwaltet für die heutige tschechische Evangelische Kirche der Böhmischen Brüder das Erbe in Kunvald.

Kunvald als Wurzel des Glaubens

In der Keimzelle der Brüderunität ist heute ein Holzhaus der wichtigste Erinnerungsort. Es steht an der Stelle, an der sich einst die ersten Brüder zum Gebet versammelt hatten. Schulklassen kommen jeden Sommer in das abgelegene Tal, um die tschechische Geschichte hautnah zu spüren; regelmäßig fahren auch Busse mit Touristen aus aller Welt vor. „Wenn Brüdergemeinden aus anderen Ländern Tschechien besuchen, halten sie immer hier an, weil hier die Wurzeln ihres Glaubens liegen“, sagt Petr Silar.

Oft beten sie unter freiem Himmel: Einen kleinen Spaziergang entfernt liegt ein Tal, das sie hier in Kunvald nur „Gebetstal“ nennen – eine dicht bewaldete Senke in dem Gebirgszug, in der sich die Gläubigen während der Verfolgungen trafen. Hier, mitten in der Natur, haben sie ihre Gottesdienste gefeiert.

In dem Tal wächst bis heute eine besondere Rose, die keine Dornen hat. „Sie soll aus dieser Zeit stammen“, sagt Petr Silar, „wir böhmischen Brüder haben zwar keine Heiligen, aber unsere Traditionen haben wir eben doch.“ Einen Spross dieser Rose hat er bei sich im Garten angepflanzt.

 

Eine Rekonstruktion der alten Druckerpresse auf der vor 400 Jahren die sechs Bände der „Kralitzer Bibel“ gedruckt wurden, steht heute im Museum in Kralice, ganz im Norden Tschechiens. (Bild: epd-Bild)

Bildungsoffensive und Herrnhuter Sterne als Folge

Heute gibt es in Kunvald keine Gemeinde mehr. Nur wenige Jahre konnte die Brüderunität hier vor fast sechs Jahrhunderten in der Einsamkeit leben, dann mussten ihre Anhänger zum ersten Mal ins Exil gehen. Immer wieder zogen sie weiter, ließen sich dort nieder, wo die Politik ihnen gerade gut gesonnen war – und wenn es nur ein paar Ortschaften weiter im Herrschaftsbereich des nächsten Adeligen gewesen ist.

Als der Einfluss der katholischen Habsburger in Böhmen stärker wurde, flüchteten viele Reformierte auch nach Preußen. Nikolaus Ludwig von Zinzendorf nahm auf seinem Gut in der Oberlausitz 1722 Glaubensflüchtlinge aus Mähren auf und gründete mit ihnen die Herrnhuter Brüdergemeine. Heute ist sie eine Freikirche, bekannt für die Herrnhuter Sterne und die Losungen.

Durch die stetige Verfolgung änderte sich auch die böhmische Brüderunität. „Die erste Generation wollte ganz bescheiden nach der Bibel leben, sich nicht öffentlich engagieren“, sagt Petr Silar. „Erst die nächste Generationen hat die Bildung in den Mittelpunkt gestellt. Wer eine bessere Gesellschaft will, muss die Kinder bilden.“ 

Schon bald wurden die Schulen der Brüderunität legendär. Sie machten Bildung erstmals für die Kinder der einfachen Bevölkerung zugänglich. Auch der Pädagoge und Theologe Jan Amos Comenius ging aus dieser Tradition hervor.

Die Kralitzer Bibel in der Plastiktüte

Eines der eindrucksvollsten Vermächtnisse der Gemeinschaft ist die„Kralitzer Bibel“. „Bischof Jan Blahoslav hat das Neue Testament ins Tschechische übersetzt, und diese Übersetzung war der Grundstein der Kralitzer Bibel“, sagt Museumsmitarbeiterin Monika Dolezalova. Etwa 2.000 Exemplare sind über die Jahre entstanden, schätzen Experten, Seite für Seite mühsam gedruckt. 

Die Kralitzer Bibel hatte großen Einfluss auf die Entwicklung der tschechischen Sprache. Und sie ist bis heute trotz der altertümlich anmutenden Formulierungen ein Bestseller. Viele von den jahrhundertealten Originalen sind noch erhalten – als Erbstücke wandern sie von Generation zu Generation. „Einmal kam ein Mann mit dem Motorrad zu uns ins Museum, ganz in Leder gekleidet, und zog aus seinem Rucksack ein Buch, das er von seinem Opa geerbt hat“, sagt Monika Dolezalova.

Die Expertin hat es durchgeblättert und in dem historischen Buch gleich ein Original aus dem Jahr 1613 erkannt. „Und stellen Sie sich vor: Der hatte das Buch in einer Plastiktüte bei sich im Rucksack! Er hat versprochen, künftig besser darauf aufzupassen.“ Seither stellt der Mann mit dem Motorrad seine Bibel einmal jährlich im kleinen Museum von Kralice aus – immer dann, wenn die Böhmischen Brüder die Gründung der Druckerei feiern.