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Demokratischer Staat versteht sich als ein Gegenüber der Kirche

Grundgesetz
(Foto: Marcito/fotolia)

Ein gänzlich laizistischer Staat brächte sich um Debatten, die ihn von der Banalität des Ökonomischen bewahren.

Der demokratische Rechtsstaat verträgt nicht nur Religion, zu einem Teil fußt er in seinen Normen und Werten auch auf religiösen Wertvorstellungen. Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebe von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren könne, so hat es mehrfach und prominent der Rechtsphilosoph und ehemalige Richter am Bundesverfassungsgericht, Ernst Wolfgang Böckenförde, ausgedrückt.

Evangelische Kirche steht heute für Toleranz ein und wirbt für sie

Viele Errungenschaften unseres demokratischen Staatswesens sind bereits in den Erkenntnissen der Reformation angelegt. Und es gibt Schattenseiten, die nicht bestritten werden sollen und dürfen. Martin Luthers Aussagen etwa über die römisch-katholische Kirche seiner Zeit und besonders auch gegenüber den Juden sind im höchsten Maße ambivalent und alles andere als tolerant. Bei all seinen großartigen Entdeckungen zur Freiheit im Glauben hatte auch Martin Luther offensichtlich Feindbilder, an denen er sich abgearbeitet hat. So begann mit ihm zwar ein unumkehrbarer Weg, aber es brauchte Zeit, bis der Schatz der Freiheit, der tief im christlichen Menschenbild wurzelt, in der Folge der Reformation neu gehoben werden konnte. Letztlich musste dieser urreformatorische Gedanke der Freiheit eines Christenmenschen sogar gegen kirchliche Lehrmeinung erkämpft werden. Weil die Kirche aber schmerzhaft durch die Reformation gegangen ist und dabei ihren Alleinvertretungsanspruch zugunsten der Anerkennung von Pluralität aufgegeben hat, steht die evangelische Kirche heute für Toleranz ein und wirbt für sie – auch für die Freiheit Andersdenkender und Andersglaubender und ebenso für die Freiheit von der Religion.

Die Reformation gehört ganz zentral zur Vorgeschichte unserer modernen Demokratie. War der Thesenanschlag von Wittenberg vor fast 500 Jahren eher noch eine akademisch übliche Diskussionseröffnung, so war Martin Luther der erste Demonstrant vor Kaiser und Reich und die Reformation die erste soziale Bewegung, die von einer breiten Basis getragen wurde. Vor allen inhaltlichen Forderungen war die Reformation eine Art Urszene für die Entwicklung der Zivilgesellschaft in Deutschland und Europa in den darauf folgenden Jahrhunderten.

„Priestertum alle Getauften" bricht mit Hierarchie

Das "Priestertum aller Getauften", das Luther ausrief und das eine der Kernbotschaften der Reformation wurde, bricht radikal mit der Hierarchie zwischen sogenannten Laien und Klerikern, Jahrhunderte, bevor das Standeswesen abgeschafft wurde. Der Wert einer Person wird demnach allein in ihrer Anerkennung durch Gott begründet, unabhängig von gesellschaftlichem Status, individuellem Vermögen und religiöser oder anderer Leistung.

Seit der Aufklärung wurde diese Überzeugung zunehmend auf alle Bürgerinnen und Bürger des Staates ausgeweitet, wobei sowohl die Juden wie auch die Frauen sehr lange warten mussten, bis auch ihnen die gleichen Rechte zuerkannt wurden. Auch im Grundgesetz hat sich diese Überzeugung säkularisiert und demokratisiert. Heute sind die Grundrechte in den Artikeln 1 bis 19 der Verfassung unverrückbar niedergeschrieben; in Artikel 3 GG heißt es: "Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich."

Alle Menschen sollen mündige Leser der Bibel werden

Der Zugang zur Sprache – ein Punkt, der gerade heute in den Debatten um Integration eine wichtige Rolle spielt – wurde von den Reformatorinnen und Reformatoren als Bedingung für religiöse und gesellschaftliche Teilhabe angesehen. Mit der Übersetzung der Bibel ins Deutsche gab Luther den sogenannten "kleinen Leuten" Partizipationsinstrumente in die Hand. Mit der Forderung nach Bildung für alle ließ sich der Alleinvertretungsanspruch des Klerus infrage stellen. Luther und die Reformatoren wollten, dass alle Menschen mündige Leser der Bibel werden. Aus dieser reformatorischen Idee erwuchs die allgemeine Schulpflicht – die zuerst in protestantischen Gegenden eingeführt wurde und dann zum Allgemeingut der abendländischen Welt werden sollte, eine Grundvoraussetzung für jede demokratische Teilhabegerechtigkeit heute.

Deshalb gehört die Reformation zur Vorgeschichte der deutschen Demokratie. Durch die reformatorische Schriftorientierung konnten die Gläubigen Kritik und Zweifel erlernen, heute würde man sagen: Sie konnten mündige und streitbare Bürgerinnen und Bürgern werden. Eben nach dem Motto: „Hier stehe ich. Ich kann nicht anders."

Gedanke eines solidarischen Miteinanders

Die Reformation steht am Beginn der kulturellen und religiösen Pluralisierung Europas. Der demokratische Rechtsstaat fußt auf der Religion und ihren Wertegrundlagen, geht aber nicht in ihr auf. Die zwar nur gelegentlich, dafür aber umso öffentlichkeitswirksamer vorgetragenen Appelle, der demokratische Staat müsse sich vollständig von der Religion und allem Kirchlichen befreien, verkennt die positive Kraft, die in diesem Erbe liegt und die Bereicherung, die die Gesellschaft dadurch erfährt: Der Gedanke eines solidarischen Miteinanders hat bis heute nichts von seiner Aktualität oder seinem demokratischen Gehalt verloren.

Es ist ein Kennzeichen totalitärer Staaten, sich die Religion entweder einzuverleiben und für die eigenen Zwecke zu gebrauchen, oder aber sich von jeglicher Religion befreien zu wollen. Religion wird als überflüssig, kontraproduktiv oder als vollkommener Unsinn diskreditiert und keinerlei kritisches Gegenüber geduldet.

Kirchen halten das „Fenster zum Himmel“ offen

Dass totalitäre Systeme eine Konkurrenz und Rivalität mit den Religionen fürchten, lässt sich gut an der friedlichen Revolution in Deutschland von 1989 erkennen: Die Angst der Machthaber vor der kirchlichen Opposition war deshalb so groß, weil die Menschen im Schutzraum der Kirchen unempfindlicher für Drohungen und Unterdrückungen waren. Sie wagten, freier und mutiger zu agieren als manch andere, und fürchteten sich weniger, ihre Meinung und Kritik öffentlich zu äußern.

Der demokratische Staat distanziert sich nicht von Religion, sondern versteht sie in größerer Ausdrücklichkeit als ein Gegenüber. In der Demokratie haben unter anderem die Kirchen und Religionen die Aufgabe, in einem Spannungsfeld von Nähe und kritischer Distanz zum Staat diesen einerseits mitzugestalten und andererseits ihm einen Spiegel vorzuhalten. Sie sind wichtige Diskussionspartner, die besondere Aspekte in den öffentlichen Diskurs einbringen können - zum Beispiel bei der Frage, wie sich Werte wie Vielfalt, Toleranz und Miteinander gestalten lassen. Und Kirchen und Religionen sind nicht zuletzt ein wichtiges Korrektiv in Gesellschaften, deren Sinnstiftung sich immer mehr zu ökonomisieren droht: Sie halten das "Fenster zum Himmel" offen.

Schutz vor der Banalität des rein Ökonomischen

Insofern profitiert der Rechtsstaat von den Religionen, ihre Institutionen können insbesondere bei ethischen Fragestellungen Meinungen wahrnehmen, die nicht der Logik und den Sachzwängen des Politischen gehorchen. Ein gänzlich laizistischer Staat, der alle Religionsausübung privatisiert und jede öffentliche Darstellung verbietet, drängt Religion nicht nur in die Hinterhöfe der Gesellschaft und macht die Religionen so unsichtbar, sondern er bringt sich auch um Debatten, die ihn vor der Banalität des rein Ökonomischen behüten können.


Der Text „Wie viel Religion verträgt die Demokratie“ ist erschienen in „Schatten der Reformation“. Das Magazin (DIN A 4, 79 Seiten) gibt es als PDF-Download.