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Es ist egal, ob jemand gerne aufräumt oder nicht. Die Gemüter sind da ja bekanntermaßen sehr verschieden ausgebildet. Wie viel Ordnungsbedürfnis anlagebedingt ist, sei erst einmal dahingestellt. Jedenfalls sei gleich vor vorschnellen Einschätzungen gewarnt: Ein unaufgeräumter Schreibtisch lässt nicht schon auf einen wirren Kopf schließen. Und lotgerecht mit Stift und Papier versehene Tischplatten sind nicht schon Indiz für Gedankenklarheit.

Eins aber ist sicher: Evangelische Freiheit ist eine aufgeräumte Freiheit. Darauf hat ein kluger Kirchenjurist kürzlich aufmerksam gemacht. Die Theologie kann das nur bestätigen. Schon lange vor den Zeiten von Feng-Shui haben die Reformatoren aufgeräumt, den Freiheitsbesen geschwungen und allerlei geistlichen Hausstaub aus den Schmuddelecken des Christentums zum Fenster hinausgekehrt. Das alles kam in einer aufgeräumten, geschliffenen Sprache daher. Martin Luthers „Sendbrief vom Dolmetschen“ ist deshalb eine Art Freiheitsschrift deutscher Sprache: „Man muss die Mutter im Hause, die Kinder auf der Gassen, den gemeinen Mann auf dem Markt drum fragen und denselbigen auf das Maul sehen, wie sie reden, und darnach dolmetschen; da verstehen sie es denn und merken, dass man deutsch mit ihnen redet.“

Ohne klare Sprache bleibt die Freiheit auf der Strecke

Klare Sprache, klare Aussage. Wenn es um evangelische Freiheit geht, muss dieser Sendbrief in einem Atemzug mit seinem Text „Von der Freiheit eines Christenmenschen“ genannt werden – in der Luther die christliche Freiheit in zwei berühmt gewordenen Sätzen präzise und allgemeinverständlich zusammenfasst: „Ein Christenmensch ist ein freier Herr über alle Dinge und niemand untertan. Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan.“ Ohne klare Sprache bleibt die Freiheit auf der Strecke. Für die freiheitlichen Aufräumarbeiten gab es da eine biblische Urszene, die den Reformatoren Mut machte, aber auch vor Augen führte, wie gefährlich und ernsthaft das Geschäft protestantischen Aufräumens ist: Jesus von Nazareth hatte seinerzeit in aller Freiheit den Tempel gereinigt. Damals nahmen ihm das diejenigen übel, die das Sagen im Tempelbezirk zu haben schienen. Wer so aufräumte, musste damit rechnen, aus dem Weg geräumt zu werden – auf brutale Weise an's Kreuz. So kam es auch.

Das Kreuz, mit dem die Tempelverantwortlichen und die damaligen Machthaber die Welt vom Aufwiegler Jesus von Nazareth eigentlich befreien wollten, wurde zum Freiheitssymbol der Christen. Und für die Reformatoren, die Verkünder der evangelischen Freiheit, ist es zum Zentrum aller Aufräumarbeiten geworden. Der Gekreuzigte habe für uns Menschen in allen entscheidenden Fragen unseres Lebens aufgeräumt, bevor wir überhaupt einen Finger krumm machen. Christus allein, prägte Martin Luther entsprechend ein – und räumte die kirchliche Verkündigung frei von einer Unmenge Heiligen, kirchlichen Würdenträgern und dogmatischen Erfindungen, die den Weg zum Heil zugepflastert hatten. Diese Befreiungstat führte zu einem aufgeräumten Glauben.

Der richtige Ort im Alltagskrempel der Welt

Der hat übrigens denkbar wenig mit der pfiffigen Devise: „Simplify your life!“ zu tun, auch wenn die von einem evangelischen Pfarrer entwickelt wurde. Es ist ja nicht so, dass ich mein Leben selber vereinfachen oder einfacher machen kann. Das menschliche Leben ist nun einmal im Scheitern wie im Glück derart rätselhaft anspruchsvoll, dass es für simple Lebensbewältigungsregeln nicht geschaffen ist. Vielmehr muss man sich für Aufräumvorgänge öffnen, die einem widerfahren. Unverhoffte Erfahrungen gehören dazu. Ein Mensch läuft über den Weg, der nicht nur ein guter Bekannter und Freund bleibt, sondern zu einer echten Begegnung wird. Alles wird bis in den Tagesablauf hinein andes. Das räumt das Leben auf. Dingen, die zuvor ungeheuer wichtig erschienen, weist neues Glück ihren richtigen Ort im Alltagskrempel dieser Welt an.

Mit schlichter Entscheidungs- und Willensfreiheit hat das kaum etwas zu tun. Wer von evangelischer Freiheit spricht, meint nicht, was einer will oder nicht will. Er meint nicht, was einer entscheiden möchte oder muss. Sondern er spricht von einer Befreiung zur Lebensgestaltung durch Gott. In diesem Prozess ist der Wille des Menschen, wie Luther verblüffend behauptete, unfrei. Der heilige Geist räume in mir meine Gedanken- und Empfindungswelt so auf, dass ich auf einmal geradezu zwingend Ja sagen müsse. Gott sorgt dabei für eine grazile Schlankheit im Glaubensleben. Fromme Verdienstorden gehören abgetan. Einiger melancholischer Ballast darf von selbst verschwinden, etwa der, im Leben doch immer nur zu wenig zustande gebracht und halbe Sachen fabriziert zu haben.

In den Erinnerungen aufzuräumen ist heikel

Doch so sehr Glaubensfreiheit durch eigene Geschäftigkeit nicht mechanisch selbst erzeugt werden kann – so sehr sie geschenkt ist, sie gehört angeeignet, um souveräne Freiheit zu werden. Das ist harte Arbeit. Tagtäglich sind die Rumpelkiste der Seele und der Lebensgestaltungshaushalt zu sichten: Was ist wichtig? Was kann ich ruhig lassen? Wer braucht mich wirklich? Welche Gedanken sind aufzuräumen, weil ich vor lauter Problemen nicht mehr klarsehe? Mit welchen ungesunden Unterstellungen ordne ich das Verhalten meiner Mitmenschen ungünstiger ein, als es eigentlich gemeint ist? Was kann auf den Sperrmüll der Lebensgestaltung? Was darf und sollte ich endgültig vergessen?

Die letzte Frage hat es in sich. In den Erinnerungen aufzuräumen, ist heikel. Man darf es nicht mit Verdrängen verwechseln. Wer verdrängt, verschiebt Belastungsmaterial zwar in das biografische Hinterzimmer des Lebens, schafft es damit aber nicht heilsam aus der Welt. In der Erinnerung aufzuräumen, meint vielmehr: Evangelische Freiheit hasst das Nachtragende. Denn wer nachtragend ist, sammelt in seinem Gedächtnis ein unausrottbares Archiv von Enttäuschungen, die er anderen ankreidet. Hier lautet der Aufräumruf: Vergib und vergiss auch einmal! Schaff Raum, neue Erfahrungen mit alten Bekannten zu machen.

Vor einigen Jahren erschien der Titel „Kunst aufräumen . . . mit einem ordentlichen Vorwort von (dem Urheberrechtsexperten) Götz von Ohlenhusen“. In diesem Bändchen räumte Ursus Wehrli für Künstler auf: Klee, Mondrian, Picasso oder Jawlenski setzte er neuen Ordnungen aus. Er behauptete frech, die Künstler wüssten nicht, wohin mit ihren Formen und Farben. Durch seine künstlerischen Aufräumarbeiten entstanden übersichtliche Tableaus. Die sind platzsparend bis dorthinaus. Das Auge kann wie ein Gabelstapler in einer Lagerhalle die Balken und Kreise und Pfeile der Bilder abfahren und nachzählen, in wie viele Formen und Farben sie sich zergliedern. Das ist ein lustiges Spiel.

Keine Ordnungsmacht der Lebenslagerhalle

So ist aufgeräumte evangelische Freiheit allerdings nicht – evangelische Ethik übrigens auch nicht. Sie ist keine Ordnungsmacht der Lebenslagerhalle. Sie will Lebensfragen nicht in normierte Stapel überführen. Im Leben aufzuräumen, heißt nicht, mit gespitztem Bleistift die Dinge durchzusortieren. Es muss bei aller Liebe zur Ordnung eine Liebe zur Ordnung in Freiheit bleiben, die Lust an ein wenig produktiver Unordnung behält, um im entscheidenden Moment situationsgerecht leben und reden zu können. Das hat der preußische Protestant Theodor Fontane völlig übersehen, als er dichtete: 

„In Arkadien wurd’ auch ich geboren. / Auch ich hab mal auf Freiheit geschworen . . . Freiheit freilich. Aber zum Schlimmen / Führt der Masse sich selbst Bestimmen, / Und das Klügste, das Beste, Bequemste, / Das auch freien Seelen weitaus Genehmste/ Heißt doch schließlich, ich hab’s nicht Hehl: / Festes Gesetz und fester Befehl.“

Evangelische Freiheit hat sich vor der Gefahr zu hüten, vor lauter Aufräumen im Leben alles auszuräumen. Weder „festes Gesetz und fester Befehl“ – noch Radikalkritik an bestehenden Ordnungen führen in die Freiheit. Es muss etwas drin sein im Leben. Und es muss etwas drin sein für das Leben. Kahle Kirchen sind ebenso wenig Ausweis von Frömmigkeit wie die Ablehnung jeglicher Ordnungen oder die Mitteilung, dass evangelische Freiheit impliziere, für „alles offen zu sein“. Mit Freiheit verbindet sich vielmehr ein wacher Blick, der unterscheidet und genau wahrnimmt, wo etwas nicht an seinem richtigen Ort ist. Schließlich sind ungerechte Verhältnisse in aller Regel unordentliche Verhältnisse im schlechten Sinne des Wortes.

Gewissensfreiheit – die dornige Frucht der Reformation

Glaube beruht auf Einsicht und Vertrauen. Wer Ordnung will, muss auf freiwillige Einsicht setzen. Das liegt in der Natur des Glaubens, wie ihn das evangelische Bekenntnis versteht. Glaubenszwang ist deshalb ein Unding. Es zerstört das, was Glauben genannt zu werden verdient. Die Gedanken- und Gewissensfreiheit ist eine dornige Frucht der Reformation. Sie ist für die evangelische Freiheit ein höchstes Gut. Es zu schützen hätte sich eigentlich von Anbeginn der Reformation von selbst verstehen müssen.

Leider war es anders. Zu den finstersten Kapiteln der Reformationsgeschichte gehört, dass Täufer wie die Zürcher Conrad Grebel, Felix Manz und der Basler Hans Denck ihre Überzeugung, dass „es mit den Sachen des Glaubens alles frei, willig und ungezwungen zugehen sollte“, mit dem Leben bezahlten. Weil sie für die Gewissensfreiheit und die freie Religionsausübung eintraten, mussten sie sterben – mit ausdrücklicher Billigung und Unterstützung der Reformatoren Luther, Zwingli und Calvin. Hier wurde geistlich abgeräumt, nicht aufgeräumt. Dass dann Landgraf Philipp von Hessen als Erster den Konfirmandenunterricht als nachgeholte Einweisung in die Taufe einführte, die Gewissensfreiheit achtete und so die Täufer in seinem Land hielt, während sie andernorts bis in den Tod hinein verfolgt wurden, ist nur ein schwacher Trost.

Nur gut, dass diese Freiheiten heute zum Kernbestand evangelischer Freiheit gehören. Diese sorgt für eine souveräne Leichtigkeit auch im Umgang mit Hierarchien. Wieder räumt hier die christliche Freiheit in raffinierter Weise auf, nicht aus. Einerseits gilt: Es gibt keine Vorgesetzten in geistlichen Fragen. Die Reformatoren haben schließlich nicht die Heiligenfürbitte abgeschafft, um dafür einen evangelischen frommen Dienstweg neuer Art einzuführen. Andererseits heißt es: Leitungen sind nötig, wenn man organisieren und gestalten will, nur sind sie weltlich, pragmatisch – und nichts Geistliches. 

Ist das klar, ist Freiheit bedeutend mehr als die einsame Autonomieerfahrung eines Subjektes. Sie kann im öffentlichen wie im privaten Leben gemeinsam genossen werden. Mit anderen zusammen aufzuräumen, ist nämlich viel schöner, als es allein tun zu müssen. Das ist eine alte Kindheitserfahrung. Gemeinsam geteilte Freiheit beflügelt entsprechend und sorgt für aufgeräumte Stimmungen. 


Dieser Text ist erschienen im Magazin zum Themenjahr 2011 der Lutherdekade „Taufe und Freiheit“, herausgegeben von der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD). Das Magazin (68 Seiten, illustriert mit Mini-CD) kann kostenlos beim Kirchenamt der EKD (Herrenhäuser Str. 12, 30419 Hannover, E-Mail: jessica.jaworski@ekd.de) bestellt werden.