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Elf vorsichtige Thesen zum Einfluss der Reformation auf die Rechtsgeschichte

Justitia
Justitia (Foto: photocase/misterQM)

Der Verfasser ist sich des Kontinuität-Diskontinuität-Problems („Die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“) bewusst. Die hier ausgewählten und zur Diskussion gestellten Zusammenhänge sind zugegebenermaßen plakativ und vielleicht auch einseitig formuliert. In Wirklichkeit lässt sich auf den hier gewählten Gebieten Verfassung und Recht kaum eine originäre und essenzielle Neuerung mit zukunftsweisender Wirkung ausmachen, welche nicht schon vor der Reformation angelegt war. Fortentwicklungen älterer Ansätze mögen dann unter den Bedingungen des reformatorischen Geschehens und Lehrgebäudes sowie der Entfaltung des Obrigkeitsstaates freilich zu einer neuen Qualität geführt haben.

Ferner entbehren die folgenden Aussagen und Mutmaßungen einer theologisch-kirchengeschichtlichen Grundlegung. Aus der Sicht der Verfassungs- und Rechtsgeschichte, die sich vornehmlich an Institutionen und Normen orientiert, sind sie meines Erachtens aber zum ganz überwiegenden Teil für den hier verfolgten Zweck (als Diskurs evozierende „Thesen“) zu rechtfertigen.

1. Staat als ausschließlicher Gerichtsherr (Gewaltmonopol des Staates)

Mit dem Ersatz der tradierten bischöflichen Gerichtsbarkeit als Organisations- und Herrschaftsform einer der zwei mittelalterlichen Universalgewalten (Zweischwerterlehre) durch eine neue, letztlich beim Landesherrn angebundene Gerichtsorganisation (darunter die neu aufgerichteten Konsistorien) wurde ein entscheidender Schritt zur Verweltlichung und Monopolisierung von Rechtsprechung getan. Letztere dominiert in den modernen Staaten. Luthers „Zweireichelehre“ mag dieser Reorganisation weltlicher Gewalt in den protestantischen Staaten zugrunde liegen.

  • Vgl. etwa Art. 92 GG: „Die rechtsprechende Gewalt ist den Richtern anvertraut (...).“
  • § 12 GVG: „Die ordentliche Gerichtsbarkeit wird durch Amtsgerichte, Landgerichte, Oberlandesgerichte und durch den Bundesgerichtshof (...) ausgeübt.“

2. Bildung als weltliche/obrigkeitliche Aufgabe

Besonders in seiner Adelsschrift und in seiner Ratsherrenschrift formulierte Luther seine Vorstellungen von Bildung für jedermann (einschließlich Mädchen und Frauen), wofür die Repräsentanten der weltlichen Obrigkeit unmittelbare Vorkehrungen durch Gründung von Schulen, Bibliotheken etc. treffen und Verantwortung übernehmen sollten. Bildung avancierte zur Aufgabe des säkularen Staates, welche heute in allen modernen Verfassungen verankert ist.

  • Vgl. etwa Art. 7 Abs. 1 GG: „Das gesamte Schulwesen steht unter der Aufsicht des Staates.“ 

3. Paritätische Besetzung der Reichs-/Staatsorgane

Die Reformation führte im Gesamtgefüge des Alten Reiches zur Herausbildung dreier großer Konfessionen, von denen die katholische und protestantische durch den Augsburger Religionsfrieden reichsrechtlich zu gegenseitiger Akzeptanz verpflichtet wurden (die Reformierten kamen im Text bekanntlich nicht vor). Ungeachtet der dauerhaften katholischen Provenienz des Kaisers und der ihm zugeordneten höchsten Reichsorgane musste fortan auf eine paritätische Besetzung Rücksicht genommen werden (beim Reichskammergericht seit 1560). Die angemessene Repräsentanz verschiedener, gleichberechtigter Gruppen in Gremien und Institutionen ist ein heute alltägliches Prinzip aller modernen Staatswesen.

  • Vgl. § 37 Abs. 1 HRG: „Die Mitwirkung an der Selbstverwaltung der Hochschule ist Recht und Pflicht aller Mitglieder. Art und Umfang der Mitwirkung der einzelnen Mitgliedergruppen und innerhalb der Mitgliedergruppen bestimmen sich nach der Qualifikation, Funktion, Verantwortung und Betroffenheit der Mitglieder. (...) alle Mitgliedergruppen müssen vertreten sein und wirken (..). grundsätzlich stimmberechtigt an Entscheidungen mit.“

4. Neue Grundlegung der Armenfürsorge

Mit dem Wegfall der aus den altkirchlichen Strukturen gespeisten Armenfürsorge entstand ein neues System von Institutionen („Gemeiner Kasten“) und Rechtsgrundlagen („Kastenordnung“) zur materiellen Grundversorgung von Personen, die nicht durch eigene Kraft ihren Lebensunterhalt sichern konnten (Alte, Kranke, Bettler etc.). Das überkommene „Almosen“, welches ausschließlich vom Willen des Almosenspenders abhing, wurde durch eine anspruchsähnliche Berechtigung, die durch öffentlich bekannt gemachte Rechtsnormen („Kastenordnungen“) verankert wurde, ersetzt. Darin kann eine Wurzel (freilich nur eine von mehreren Wurzeln) des modernen (i. e. professionalisierten) Sozialrechts gesehen werden.

  • Vgl. Art. 20 Abs. 1 GG: „Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat.“
  • § 1 Satz 1 SGB XII: „Aufgabe der Sozialhilfe ist es, den Leistungsberechtigten die Führung eines Lebens zu ermöglichen, das der Würde des Menschen entspricht.“
  • § 3 Abs. 2 SGB XII: „Die Sozialhilfe wird von örtlichen und überörtlichen Trägern geleistet.“
  • § 3 Abs. 2 SGB XII: „Örtliche Träger der Sozialhilfe sind die kreisfreien Städte und die Kreise (...).“ 

5. Toleranz als Staatsprinzip

Die Reformation brachte mit der Verstetigung der protestantischen Kirchen und Territorien sowie deren nachträglichen rechtlichen Absicherung in der Reichsverfassung ein neues Verständnis von Toleranz hervor. Dieses Prinzip ging in die Verfassungen der modernen Staaten ein (Grundrechte, hier insbesondere die Glaubens-, Gewissens- und Bekenntnisfreiheit, als Verkörperung von Toleranz).

  • Vgl. Art. 4 Abs. 1 GG: „Die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses sind unverletzlich.“ 

6. Anfänge der Religionsfreiheit bzw. Freizügigkeit

In dem mit dem Prinzip „cuius regio eius religio“ korrespondierenden Recht, das vom Landesherrn konfessionell bestimmte Territorium zu verlassen (ius emigrandi), kann eine Wurzel der Religionsfreiheit und des modernen Freizügigkeitsrechts gesehen werden („Dieses Abzugs- oder Emigrationsrecht musste in einer Welt, der die Idee der Toleranz noch fremd war, als ein Maximum individueller Freiheit gelten“). An eine allgemeine Religionsfreiheit war jedoch nicht gedacht.

  • Vgl. etwa Art. 11 Abs. 1 GG: „Alle Deutschen genießen Freizügigkeit im ganzen Bundesgebiet.“

7. Autonomie

Mehr oder minder ausgestaltete Autonomie ist ein Kennzeichen moderner Gruppierungen mit unterschiedlichen administrativen, rechtlichen, ethnischen, sprachlichen oder religiös-konfessionellen Merkmalen in den gegenwärtigen Staaten. Ausdruck einer solchen Autonomie ist die Satzungs- und Organisationsbefugnis von Gemeinden, Verbänden, Körperschaften etc. Diese wird bis heute (in Abkehr vom universalen und stringenten Geltungsanspruch zentraler Vorgaben) ausgeübt. Gerade die Neuanfänge in diese Richtung sind bei der Einführung der Reformation, insbesondere in den Städten bezüglich des Stadtkirchen-, Schul- und Armenwesens, während des 16. Jahrhunderts ganz offensichtlich.

  • Vgl. Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG: „Den Gemeinden muss das Recht gewährleistet sein, alle Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft im Rahmen der Gesetze in eigener Verantwortung zu regeln.“ 

8. Rechtsstellung der Frau

Die Reformation eröffnete ganz neue Möglichkeiten für eine Verbesserung der Rechtsstellung von Frauen, die sich an einer rechtlich abgesicherten Mitwirkung an den Aufgaben des Gemeinwesens ausdrückt. Die in den protestantischen Kirchen seit langem verwirklichte Möglichkeit, Frauen hohe Kirchenämter anzuvertrauen und ausüben zu lassen, erscheint als avantgardistisches Prinzip, das gewiss auf einem reformatorischen Fundament aufruht.

  • Vgl. Art. 3 Abs. 2 Satz 1 GG: „Männer und Frauen sind gleichberechtigt.“ 

9. Eheschließungsfreiheit

Das neue Verständnis, welches die Reformation in Bezug auf die Rolle der Geschlechter und die Sinnhaftigkeit ihrer Beziehungen zueinander hervorbrachte, führte zu einer Entscheidungsfreiheit der Individuen darüber, ob sie in einer Ehe zusammenleben wollen oder nicht. Keine religiöse/kirchliche Bindung sollte sie fortan darin hindern. Grundsätzlich kann niemand gezwungen werden, eine Ehe zu schließen; grundsätzlich kann niemand gezwungen werden, keine Ehe zu schließen.

  • Vgl. § 1588 BGB: „Die kirchlichen Verpflichtungen in Ansehung der Ehe werden durch Vorschriften dieses Abschnitts nicht berührt.“ 

10. Ehescheidung dem Bande nach

Am augenfälligsten im heute geltenden Recht sind die reformatorischen Vorstellungen von der Beendigung der Ehe durch Scheidung (dem Bande nach) mit dem Recht der Wiederverheiratung. Diese Sichtweise beruht auf der Erkenntnis, dass die Eheschließung, anders als im Mittelalter vehement praktiziert und untermauert, eben kein Sakrament ist.

Auch die Form der Eheschließung durch den Konsens der Brautleute vor einer öffentlichen Stelle (heute vor einer Standesbeamtin/einem Standesbeamten – „obligatorische Zivilehe“) dürfte auf den Kampf der Reformatoren gegen die „Winkelehen“ als Auswuchs des verabsolutierten römisch-kanonischrechtlichen Prinzips „consensus facit nuptias“ zurückgehen.

  • Vgl. § 1310 Abs. 1 Satz 1 BGB: „Die Ehe wird nur dadurch geschlossen, dass die Eheschließenden vor dem Standesbeamten erklären, die Ehe miteinander eingehen zu wollen.“
  • § 1564 Sätze 1 und 2 BGB: „Eine Ehe kann nur durch richterliche Entscheidung auf Antrag eines oder beider Ehegatten geschieden werden. Die Ehe ist mit der Rechtskraft der Entscheidung aufgelöst.“ 

11. Anfänge der modernen Gesetzgebung

Durch die Ablehnung der kirchlichen Gerichtsbarkeit und des kanonischen Rechts entstand auf diversen Gebieten des Alltagslebens eine Art rechtliches Vakuum, das sich schon früher im Rahmen des vorreformatorischen Kirchenregiments angebahnt hatte („das ordnungspolitische Vakuum“). Was sollte gelten, wenn nicht (mehr) das kanonische Recht?

Hier schien so etwas auf, was in der Moderne aus der Sicht des Gesetzgebers als "Regelungsbedarf" bezeichnet werden würde. Dieser Bedarf wurde im Laufe von Jahrzehnten durch Kirchenordnungen und verwandte Normensetzung seitens der Landesherren, Städten oder/und der Kirchen befriedigt. Die rationale und praktikable Reaktion auf gesellschaftliche Probleme mittels Gesetzgebung, d. h. bewusste Normensetzung in einem bestimmten Verfahren durch die dazu berufenen Autoritäten, war relativ neu. Im Mittelalter galt das Grundverständnis, dass man kein (neues) Recht setzen müsse; Recht sei vorhanden, es müsse nur gefunden werden (Konzeption des nicht schriftlichen Gewohnheitsrechts). Die Kirchenordnungen können daher auch als Anfänge einer modernen staatlichen Gesetzgebung, die sich an gesellschaftlichen Notwendigkeiten orientiert, verstanden werden.

  • Vgl. etwa Art. 70 ff. GG: „Die Gesetzgebung des Bundes.“

Prof. Dr. Heiner Lück

Prof. Dr. Heiner Lück lehrt Bürgerliches Recht und Rechtsgeschichte an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg.

Der vorliegende Text erschien unter dem Titel „Urahnen des Grundgesetzes?“ erstmals im EKD-Magazin „Reformation. Macht. Politik“ zum Themenjahr „Reformation und Politik“ im Rahmen der Lutherdekade. Das Magazin (DIN A 4) gibt es als PDF-Download oder kostenlos beim Kirchenamt der EKD (Bestelladresse: Herrenhäuser Str. 12, 30419 Hannover, E-Mail: jessica.jaworski@ekd.de). Weitere Texte zum Themenjahr „Reformation und Politik“ sowie Materialien zum Download finden sich unter www.ekd.de/reformation-und-politik.