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Freiheit heute und zu Luthers Zeiten – das sind zwei Paar Schuhe von Robert Leicht

Der Erfolg hat viele Väter. Also Vorsicht, wenn für ein historisches Ergebnis Vaterschaften reklamiert werden! Die modernen Menschenrechte gingen unmittelbar zurück auf das christliche Menschen­bild, sagen viele Kirchenmänner. Aber wofür nicht alles wird das christliche Menschenbild vaterschaftlich in Anspruch genommen! So soll die Gleichberechtigung von Männern und Frauen diesem Menschenbild entsprechen und neuerdings auch das Zusammenleben gleichgeschlechtlicher Partnerschaften in Pfarrhäusern. Nicht dass ich diese Errungenschaften verwerfen wollte. Ich frage mich nur, weshalb wir Christenmenschen fast 2000 Jahre, teilweise noch länger dazu gebraucht haben, dies alles zu erkennen, während wir zuvor immer ganz anders dachten.

Ein Problem, das uns heute nicht auf den Nägeln brennt

Wenn nun im Vorfeld des heraufziehenden 500-jährigen ­Reformationsjubiläums und in der Lutherdekade (bis 2017) der Frage nachgegangen werden soll, ob nicht Martin Luther der ­eigentliche Vater unserer aller heutigen Freiheit ist, bleibt ein gediegenes Maß an Vorsicht angeraten. Denn wenn Martin Luther von Freiheit sprach, so dachte er an ein Problem, das uns Heutigen, auch uns heutigen Christenmenschen, nicht mehr wirklich auf den Nägeln brennt – wohingegen das, was wir heute für ­unsere Freiheit halten, Martin Luther überhaupt noch nicht vor Augen stand. Im Übrigen sollten wir der Ahnenreihe gedenken, die nach 1945 grobschlächtig aufgestellt wurde: Martin Luther, Friedrich der Große, Otto von Bismarck, Adolf Hitler. Damals war es durchaus noch en vogue, Martin Luther als Patron christlicher Unterwürfigkeit gegenüber dem Obrigkeitsstaat darzu­stellen. Selbst Karl Barth polemisierte gegen die Obrigkeitsfrömmigkeit des Luthertums. Nun also Martin Luther als Vorvater unserer modernen Freiheit – kann das denn wahr sein?

Schauen wir also erst einmal etwas näher auf das, was Martin Luther meinte, wenn er von Freiheit sprach zunächst in ganz traditioneller Sprechweise: Für ihn bedeutete Freiheit zum einen Freiheit vom Gesetz der Sünde und zum anderen von der Sünde des (falsch verstandenen) Gesetzes. Überdies bedeutete ihm ­Freiheit die Befreiung von der Furcht, Gott aus eigener religiöser Leistung gerecht werden zu müssen, es aber niemals vollbringen zu können. Dieses Befreiungserlebnis in der Einsicht, derzufolge der Mensch gerecht vor Gott wird nicht durch seine Werke, ­sondern allein im Glauben, begrüßte Luther mit den Worten: Da fühlte ich mich wie ganz und gar neugeboren, und durch offene Tore trat ich in das Paradies selbst ein.

Martin Luthers Kritik an der verfehlten Freiheit

Vielmehr müssen wir selber uns kritisch fragen, ob wir uns in unserem modernen, weithin auch schon trivialisierten Freiheitsverständnis noch von dem erschrecken und erwecken lassen, was Freiheit für Martin Luther bedeutete – Freiheit des Geistes nämlich im Kontrast zur Freiheit des Fleisches. Müssen wir nicht vielmehr zugeben, dass die theologische Intensität und die radikale Frömmigkeit Luthers unserem verbürgerlichten Christentum und Protestantismus weithin abhandengekommen sind? Schon Dietrich Bonhoeffer hatte in seiner Nachfolge davor gewarnt, die reformatorische Gnadenzusage (allein aus Glauben) zur billigen Gnade verkommen zu lassen. Hätte Bonhoeffer beim Blick auf unsere heutige protestantische Realität nicht noch viel mehr Grund zu dieser Warnung? Wer so fundamental zu fragen und zu denken wagte wie Martin Luther oder Dietrich Bonhoeffer, dem würde heute schnell der Fundamentalisten­kittel übergeworfen.

Das politische Freiheitsverständnis aber, das wir heute jedenfalls politisch zu Recht verteidigen, hat seine Wurzeln eher bei Machiavelli, Hobbes, Locke, bei der Aufklärung, bei der Konsequenz der fortschreitenden Naturwissenschaften, bei der französischen Revolution (trotz ihrer terroristischen Entartung) und bei dem politischen Erwachen des bürgerlichen Eigeninteresses als bei Martin Luther oder gar beim etablierten und orthodoxen Luthertum bis weit in die Weimarer Republik hinein.

In einem Punkt widersprechen sich sogar Luthers Freiheits­verständnis und unser modernes Freiheitsverständnis nahezu diametral. Politisch müssen wir die Freiheit als Ausdruck individueller und personaler Autonomie verstehen, sofern sich diese Autonomie gegen staatliche Herrschaftsansprüche wendet. Theo­lo­gisch müssen wir Luthers Interpretation der Freiheit als Kritik jener personal-autarken Autonomie verstehen, sofern diese ­Autonomie jenes Bewusstsein schlechthinniger Abhängigkeit (so der evangelische Theologe Friedrich Schleiermacher) zu vergessen oder gar abzuschütteln versucht, das Luther als die Knechtschaft des neuen Menschen in der Gerechtigkeit Gottes beschreibt.

Dimension geschwisterlicher Fürsorge

Wo wir heute sagen, dass die Freiheit des einen ihre Grenze allein an der Freiheit des anderen findet, würde Luther anders reden, und darin liegt die durchaus auch für uns Protestanten mögliche und verpflichtende Dimension eines evangelischen Freiheitsverständnisses: Unsere Freiheit findet nicht etwa ihre Grenze an der Freiheit, sondern erst ihren Sinn in der Freiheit des anderen. ­Diese Dimension der geschwisterlichen Fürsorge meinte der Refor­mator, als er gegen die lieblose Freiheit wetterte und seinen Wittenberger Schwärmern mit seinen Invokavitpredigten ins Gewissen redete: „Frei sein aber ist das, welches mir freisteht: ich mag es gebrauchen oder lassen, doch so, dass meine Brüder und nicht ich den Nutzen davon haben.“ Freiheit muss sich ­wieder lohnen, in der Tat. Aber erst einmal für die anderen.


Robert Leicht
Journalist und Publizist Robert Leicht
(Foto: epd-bild/Norbert Neetz)

Robert Leicht ist Publizist und war von 1992 bis 1997 war er Chefredakteur der ZEIT. In den Jahren 1997 bis 2003 war Leicht Ratsmitglied der EKD und von 2003 bis 2009 Mitglied der Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland. Von 1999 bis 2009 war er Präsident der Evangelischen Akademie zu Berlin und lehrt als Honorarprofessor für öffentliche Kommunikation und aktuelle Politik an der Universität Erfurt.