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Tom Buhrow: In weiter Ferne und doch nah? Fragen nach der Aktualität der Reformation

Tom Burow
Tom Burow (Foto: Wikipedia)

Reformationsjubiläum – das ist doch erst 2017, für einen aktiven Medienmenschen des 21. Jahrhunderts eigentlich ein Datum in weiter Ferne. Allerdings begegnet mir das Thema nun schon seit Jahren mit steigender Häufigkeit in den Medien. Als Profi würde ich sagen: Thema bereits nachhaltig platziert. Denn selten hat sich ein Jahrestag so lange im Voraus in ganzseitigen Artikeln und im überregionalen Feuilleton niedergeschlagen. 

Kürzlich etwa mit Udo di Fabios Nachdenken über die Wurzeln unseres heutigen Verständnisses von Toleranz und Vielfalt in der Reformation (FAZ 21.4.2014). Auch bemerke ich, dass Politiker wie Außenminister Frank Walter Steinmeier ihre Arbeit an reformatorischen Ideen abgleichen – wie in einem Vortrag zum 490. Magdeburger Reformationsjubiläum Ende Juni dieses Jahres.

Äußerer Anlass dieser Reflexionen sind meist die Themenjahre der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), etwa zu Bildung, Freiheit, Musik, Toleranz und aktuell zur Politik. Sie geben dem Nachdenken über die Bedeutung der Reformation einen Fokus auf die Gegenwart.

Akzent in die Politik der Gegenwart

Die evangelische Kirche nutzt so das Jubiläum für eine Dekade, die ihren ureigenen Themen Aufmerksamkeit verschaffen und sie in die Diskussion bringen soll – außer- wie innerkirchlich. Damit erinnert sie sich und die Öffentlichkeit an ihre Anfänge, denen heute der Beginn vieler gesellschaftlicher Entwicklungen zugeschrieben wird. Und das setzt ohne Zweifel auch einen bedeutsamen Akzent in die Politik der Gegenwart. Vom Freiheitsgedanken über das Arbeitsethos bis hin zur Massenkommunikation – von vielen Zügen moderner demokratischer Gesellschaft heißt es ja heute, dass sie sich ohne die Reformation nicht oder nicht so entwickelt hätten.

Besonders der Blick auf die Anfänge moderner Medienkommunikation, auf die große Umwälzung im 16. Jahrhundert, die den heute nicht mehr wegzudenkenden öffentlichen und demokratischen Diskurs ermöglicht hat, lohnt sich für mich als Journalisten und Intendanten des Westdeutschen Rundfunks (WDR). Denn wir befinden uns auch heute wieder in einem fundamentalen Veränderungsprozess, ausgelöst durch die digitale Revolution.

Medienhistorisch gesehen war die Reformation wohl auch mehr Revolution als Reformation. Luther und die Verbreitung des Buchdrucks, auch die Erfindung des Flugblatts, das sind geradezu Allgemeinplätze. Die wirkungsvolle Vereinigung von revolutionärer Botschaft und grundstürzend neuen Verbreitungswegen, das sind gewichtige Bezüge, die niemand mehr bestreitet. Auch nicht die Medienwissenschaftler, deren Aufgabe es ist, sie kritisch zu betrachten.

Allerdings ‒ da die ganze Dekade der Evangelischen Kirche ja fragt, "was sagt uns die Reformation heute?" ‒ finden auch Medienhistoriker einen neuen Blick, den sie aus der Perspektive des wahrlich ebenfalls grundstürzenden 21. Jahrhunderts auf das 16. Jahrhundert werfen können. Denn heute wird Crossmedialität diagnostiziert, das Ineinanderschmelzen bislang getrennter Wege des Inhaltes zu seinem Publikum. Der Siegeszug der gedruckten Schriften wäre damals nicht ohne Lieder, Predigten, öffentliches Reden so unaufhaltsam gewesen und ‒ Bildersturm hin oder her ‒ auch nicht ohne Bilder.

Auch damals wurden Medien schon "crossmedial" genutzt

Vielleicht hat die Erkenntnis, dass sich schon vor 500 Jahren unterschiedliche Medien übergreifend ergänzt und gegenseitig, eben "crossmedial", verstärkt haben, heute etwas Beruhigendes für uns. Und noch etwas zeigt der Blick so weit zurück in die Geschichte: Das neue Medium hätte nicht den Verbreitungsgrad erfahren, hätten sich die Menschen nicht brennend für das interessiert, was gedruckt wurde. Im Falle der Reformation: Die Reflexion über das Verhältnis des Menschen zu Gott war von so brennendem Interesse, dass damit die Medieninnovation Buchdruck auf eben solch brennendes Interesse stieß. Ein, wie ich finde, höchst aktueller Befund, der bis heute die wesentliche Quelle aller erfolgreichen Massenkommunikation bezeichnet.

Stellte sich den Reformatoren noch die Frage, wie die Übermacht einer Institution, nämlich der römischen Papstkirche, und der damit verbundene Missbrauch von Macht zu kontrollieren sei, steht heute die Macht und die Autorität von etablierten Institutionen per se in Frage. Und spätestens seit den NSA-Enthüllungen kann man als politischer Mensch, und erst recht als Journalist, der Frage nicht ausweichen: Wer ist an die Stelle sichtbarer Institutionen mit Insignien der Macht getreten, wer ist es eigentlich, der heute die Öffentlichkeit kontrolliert, die doch selbst die Macht kontrollieren sollte?

Die Herausforderung durch die digitale Revolution, die ja nicht nur Kultur und Medien umwälzt, sondern Gesellschaft im Wortsinne total erfasst, ist also nicht nur technisch, formal und infrastrukturell; sie stellt auch die Frage nach der Zukunft der Inhalte selbst, und zwar unüberhörbar. Darüber und im sinnvollen Zusammenhang mit der Frage nach der Aktualität der Reformation so grundsätzlich, mit langem Atem und öffentlich zu diskutieren, wie es die EKD tut, das nehme ich als verdienstvolle Anregung auch für die Mediensphäre und erst recht für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk. 


Dieser Text erschien zum ersten Mal in Politik & Kultur - Die Zeitung des Deutschen Kulturrates 5/2014. Tom Buhrow ist Intendant des WDR.