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Stephan J. Kramer: Und willst Du nicht mein Bruder sein... Gedanken zum Reformationsjahr aus jüdischer Sicht

Stephan J. Kramer
Stephan J. Kramer (Foto: epd-bild/Caroline Seidel/dpa-Pool)

Vom 500-jährigen Jubiläum der Reformation trennen uns noch weniger als vier Jahre, doch wird bereits weit im Vorfeld über die Reformation debattiert, mal pietätvoll, mal kritisch, mal theologisch und dann wieder politisch. Eigentlich verständlich, handelte es sich beim Beginn der Reformation um ein monumentales Ereignis in der Geschichte Deutschlands, des Christentums und des Abendlandes.

„Eher eine Sau als ein Christ“

Ich maße mir nicht an, zu der innerchristlichen Diskussion über Luther und die Reformation beizutragen. Vielmehr möchte ich das Thema von Luthers Verhältnis zum Judentum und auf die historische Relevanz von Luthers Judenfeindschaft aus jüdischer Sicht aufgreifen. Dass Martin Luther ein Antisemit war, ist heute, glaube ich, unumstritten. Ich weiß wohl, dass es ein populäres Zitat aus seiner Schrift „Dass Jesus Christus ein geborener Jude sei“ gibt. Dort sagte der Reformator, wenn er ein Jude gewesen wäre und die Christen gesehen hätte, so wäre er „eher eine Sau als ein Christ“ geworden. Gelegentlich wird dieses Zitat als ein Zeichen für eine freundliche Gesinnung Luthers gegenüber den Juden propagiert. In Wirklichkeit war Luther durch und durch mit der damals vorherrschenden kirchlichen Auffassung einverstanden, das Judentum habe keine Existenzberechtigung.

Mit Blick auf die Juden ging es ihm darum, sie erfolgreicher zum Christentum bekehren zu können, wenn die von ihm geforderten Änderungen der Kirche erst durchgesetzt worden seien. Als diese Hoffnung nicht aufging, zeigte Luther seine Judenfeindschaft wieder ganz unverhohlen. In der Schrift „Von den Juden und ihren Lügen“ forderte er Christen auf, Synagogen, jüdische Häuser und jüdische Religionsbücher zu verbrennen.

Der alte Judenhass flammt ganz offen auf

Wer also von Luthers „enttäuschter Liebe zu den Juden" spricht, verkennt den Kern der Sache. Wie es die Kirche seit der Frühphase ihrer Existenz getan hatte, sprach auch Luther den Juden nach dem Erscheinen von Jesus die Existenzberechtigung als Juden ab. Und da die Juden trotz Luthers Hoffnungen ihrem Glauben treu blieben, ließ er den alten Judenhass ganz offen aufflammen. Das war keine enttäuschte Liebe. Das war der Zorn auf einen Unwürdigen, der sich dem Willen des Gebieters nicht beugt. Hier hat Luther also nichts reformiert, sondern das Grundprinzip des christlichen Antijudaismus trefflich verwendet: Den Juden wird das Recht auf das Dasein abgesprochen. Das Judentum darf es eben nicht geben.

Die praktische Umsetzung dieses Prinzips fand im Laufe der Jahrhunderte diverse Formen, von der Zwangstaufe über Ghettoisierung – so wohnten die Juden wenigstens nicht unter den "reinen" Christen – bis hin zur Vertreibung. Die Nazis zogen aus der Ablehnung jüdischer Existenz schließlich die radikalste Konsequenz, die physische Vernichtung. So ist die Shoa durchaus im Zusammenhang mit der jahrtausendelangen Verneinung des Rechts der Juden auf Existenz zu sehen. An dieser Vorläufertradition hat Martin Luther einen nicht unerheblichen Anteil – und zwar nicht nur wegen des von ihm zu seinen Lebzeiten verbreiteten Judenhasses, sondern auch wegen der Wirkungsgeschichte seiner antisemitischen Lehren. 

Es gab auch die andere Position

Nun geht es natürlich nicht darum, das Christentum als einen Vorläufer des Nazitums darzustellen, auch nicht implizit. Es gab ja auch zu Luthers Zeiten die andere Position – etwa bei Philipp Melanchthon oder seinem Onkel Johannes Reuchlin. Und natürlich sind die Kirchen von heute, weder die evangelische noch die katholische, mit Blick auf ihr Verhältnis zu Juden dort, wo sie vor Jahrhunderten, ja noch vor Jahrzehnten waren. Heute gehört die Anerkennung des Judentums zur Grundüberzeugung der Mehrheiten der beiden Konfessionen. Indessen ist ein historischer roter Faden des Antisemitismus, der sich durch viele Bereiche der abendländischen Geschichte zieht, auch hier nicht zu verkennen. Wenn die evangelische Kirche in Deutschland ein halbes Millennium seit Luthers Thesen feiert, sollte sie auch Luthers Antisemitismus als Teil ihrer Geschichte bewusst thematisieren.

Keine existenzielle Gefahr für uns heutige Juden, aber doch ein unnötiges Ärgernis sind Missionierungsversuche, wie sie von bestimmten evangelikalen Kreisen in Deutschland betrieben werden. Wer Juden die Heilsfähigkeit abspricht, spricht dem Judentum letztendlich ebenfalls die Daseinsberechtigung ab. Das ist beleidigend. Selbstverständlich weiß ich, dass es in der EKD massiven Widerstand gegen die Judenmission gibt. Sehr eindeutig hat es im Jahr 2009 der damalige Präses der Evangelischen Kirche im Rheinland Nikolaus Schneider formuliert: „Nach meiner festen Überzeugung beschreiten Christinnen und Christen, Kirchen und ihre Missionsgesellschaften einen theologischen Irrweg, wenn sie im Namen des Evangeliums versuchen, Jüdinnen und Juden von jüdischem Glauben und jüdischer Lebensgestaltung abzubringen und sie zu Mitgliedern christlicher Gemeinden zu machen.“

Juden besitzen Heilsfähigkeit und müssen nicht erst Christen werden

Es wäre zu wünschen, dass diese Position von der evangelischen Kirche noch umfassender vertreten wird, und zwar nicht nur aus politischen, sondern eben ganz klar aus theologischen Gründen. Das Reformationsjahr und die Vorbereitung darauf sind eine gute Gelegenheit zu betonen, dass Juden als Juden die Heilsfähigkeit besitzen und dazu nicht erst Christen werden müssen. Eine Festigung dieser Aussage in allen Bereichen und auf allen Ebenen des evangelischen Lebens – das gilt natürlich auch für die katholische Kirche – würde den jetzt schon fruchtbaren Dialog zwischen Juden und Christen weiter fördern und das geistige Fundament unserer Gesellschaft stärken.


Dieser Text erschien zum ersten Mal in Politik & Kultur - Die Zeitung des Deutschen Kulturrates 1/2014. Stephan J. Kramer war bis Ende Januar 2014 Generalsekretär des Zentralrats der Juden in Deutschland.