Lutherbilder im Wandel der Zeiten (I)

(Foto: akg-images/Doris Poklekowski)

Wer sich mit Luther beschäftigt, macht sich sein eigenes Bild von ihm. Von daher wundert es nicht, dass es viele verschiedene Lutherbilder gibt. Sie hängen vom jeweiligen Standpunkt und der Perspektive des Betrachters ab, wie auch von den gesellschaftlichen und geistigen Voraussetzungen seiner Zeit. Zudem war Luther eine äußerst vielseitige, reiche, spannungsvolle und widersprüchliche Gestalt. Seine Person und sein Leben bieten sich als Identifikationsfigur oder Feindbild an. Der erste Teil unseres Beitrags behandelt die kirchlich-theologische Rezeption sowie das Lutherbild in der Aufklärung. In Teil 2 folgen das nationalistische, sozialistische und psychologische Lutherbild sowie negative Klischees über den Reformator.

Tatsächlich lebt Luther bis heute im allgemeinen Bewusstsein, er ist fast ein halbes Jahrtausend lang in lebendiger Erinnerung geblieben. Wenn man heute nach Lutherbildern fragt, gilt ein allgemeiner Grundsatz der geschichtlichen Wirkung und Rezeption: Jede Zeit sucht und findet in den großen Gestalten der Vergangenheit das, was ihr entspricht, was sie bestätigt. Deswegen sind die einzelnen Lutherbilder immer zeitbedingt, einseitig und manchmal fragwürdig. Man gelangt selbst über das Problem, Luther aus der eigenen Perspektive wahrzunehmen, nicht hinaus.

Kirchliche Rezeption

Luther ist in der evangelisch-lutherischen Kirche allgegenwärtig, schließlich ist er schon in den Namen der Kirche eingegangen. Dabei handelt es sich ursprünglich nicht um eine Selbstbezeichnung, vielmehr um ein Etikett, das ihr von der römisch-katholischen Kirche aufgedrückt wurde. Luther selbst hat sich in einer berühmten Bemerkung vehement, wenn auch vergeblich dagegen gewehrt: „Man wolle meines Namens geschweigen und sich nicht lutherisch, sondern Christen heißen. Was ist Luther? Ist doch die Lehre nicht mein. So bin ich auch für niemand gekreuzigt (...). Wie käme denn ich armer stinkender Madensack dazu, dass man die Kinder Christi sollte mit meinem Namen nennen?"

Luther hat drei der kirchlichen Bekenntnisschriften verfasst, den Kleinen und den Großen Katechismus sowie die Schmalkaldischen Artikel. Er bleibt in „seiner" Kirche auch gegenwärtig durch die Bibelübersetzung und seine Lieder, außerdem durch Schlüsselszenen seines Lebens: Luther als furchtloser Reformator mit dem Hammer in der Hand, Luther vor Kaiser und Reich in Worms, Luther auf der Wartburg.

Die allgemeine Hochachtung Luthers reicht bis zu dem Missverständnis, er habe die evangelische Kirche gegründet. Schon sehr früh nahm die Lutherverehrung religiöse Züge an: Man sah in ihm einen Propheten, etwa den wiedergekehrten Elia, oder den „Engel mit einem ewigen Evangelium". Wiederholt stellte man ihn auf Holzschnitten mit dem Heiligenschein als „heiligen Luther" dar. Jedenfalls sah man ihn als von Gott gesandten Wiederentdecker des Evangeliums und als Erneuerer der christlichen Kirche. So geschieht es auch heute, weitgehend einhellig und unbestritten.

Diese Sicht Luthers birgt die Gefahr einer übertriebenen Menschenverehrung, eines religiösen Heroenkults. Luther war wohl eine Gestalt mit einem besonderen Auftrag, aber ein Mensch mit Ecken und Kanten, auch mit Fehlern. Er war weder unfehlbar in seiner Lehre noch in seiner Lebensführung. Er beanspruchte auch nicht, das zu sein. Er bedurfte als Mensch der Vergebung wie jeder andere auch. Seine Lehre soll an der Bibel überprüft und nach ihr – wenn nötig – korrigiert werden. Allerdings besteht deshalb kein Anlass, Luther vom Sockel zu stoßen.

Theologische Rezeption

Der protestantischen Orthodoxie im 17. Jahrhundert war es um die rechte Lehre zu tun. Sie fasste darum den christlichen Glauben in großen systematischen Lehrbüchern zusammen. Ihre Vertreter werden heute oft wegen ihrer Lehrhaftigkeit belächelt oder wegen ihres Insistierens auf die Rechtgläubigkeit sogar abgelehnt. Man muss jedoch anerkennen, dass sie den lutherischen Glauben in schweren Zeiten – etwa während des Dreißigjährigen Krieges – gegen die Angriffe der Gegenreformation nach außen verteidigt und nach innen geklärt haben.

Sie taten das mit großer Hingabe und erstaunlicher geistiger Kraft. Ihre Werke waren nicht so trocken, wie man heute meint, freilich auch nicht so lebendig und ursprünglich wie die Schriften und Predigten Luthers. In ihrer Größe lag zugleich auch ihre Grenze: Das Feuer des religiösen Durchbruchs Luthers suchten sie in Paragraphen zu fassen. Was sie schrieben, war klar, fest, geordnet und systematisch. Dabei wurde der vertrauende Glaube leicht zum strengen Lehrgesetz. Die Kirche erlebte in ihnen die Wiederkehr der Scholastik, gegen die Luther seinerzeit gekämpft hatte. Die Rechtfertigung als Rettung des Menschen geriet ihnen zur Rechtfertigungslehre als ein Lehrsatz unter vielen.

Zudem schossen sie bei der Ausformung der Lehre von der Heiligen Schrift über das Ziel hinaus: Indem sie in der Verbalinspirationslehre jedes Wort als unfehlbar festschrieben, machten sie die Bibel zum „papiernen Papst" und gerieten in Widerspruch zur aufstrebenden Naturwissenschaft und widersprachen zudem auch der Freiheit, in der Luther mit der Bibel umging.

Das Neuluthertum des 19. Jahrhunderts wird hauptsächlich vertreten durch die Erlanger Schule, auch durch Wilhelm Löhe in Neuendettelsau. Es handelt sich um eine Wiederentdeckung Luthers nach der Aufklärung. Diese Rückbesinnung setzte allerdings den Akzent bei Luther durchaus eigenständig. Sie betonte das „Katholische" im Sinne des allgemein Christlichen an Luther, das es tatsächlich gegeben hatte. Dabei hob das Neuluthertum die Themen Kirche, Amt und Sakramente besonders hervor und sah die lutherische Kirche als Mitte der Konfessionen. Es erwarb sich das große Verdienst, Luther wieder in Erinnerung gebracht und damit durch die Zeiten gerettet zu haben.

Die Lutherrenaissance im 20. Jahrhundert wurde ausgelöst durch den Kirchenhistoriker Karl Holl (1866-1926). Seine „Gesammelten Aufsätze zur Kirchengeschichte", in denen er sich detailliert mit Luthers Theologie befasste, fanden in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg ein weites Echo. Zu den Trägern dieser neuen Beschäftigung mit Luther gehörte auch der Gründungsrektor der Kirchlichen Hochschule Neuendettelsau, Georg Merz.

Römisch-katholische Rezeption

Der römisch-katholische Blick auf Luther lässt sich unter den Stichworten Ablehnung und Würdigung beschreiben: Auf der einen Seite wird Luther in erster Linie als abtrünniger Mönch gesehen, als ungehorsamer Rebell, als der Spalter der abendländischen Christenheit, Feind des Papstes und Erzketzer. Ein traditionelles Geschichtsschema der katholischen Polemik – das im Luthergedenkjahr 1983 wieder aufgelegt wurde – läuft folgendermaßen: 1517 geschah der Abfall von Rom, 1717 (Gründung der ersten Freimaurerloge) der Abfall von der Kirche, 1917 schließlich der Abfall vom Gottesglauben überhaupt (Oktoberrevolution in Russland). Damit wird Luthers Reformation als Ursache einer Verfalls- und Unheilsgeschichte gedeutet. Auch die Enzyklika „Ut unum sint" (1995) von Papst Johannes Paul II. hält an einer ähnlich negativen Wertung fest, wenn auch mit etwas freundlicheren Worten: Die Fülle der Heilsgaben und der Wahrheit sei nur in der römisch-katholischen Kirche erhalten geblieben und darum auch nur in ihr zu finden. Dieses abwertende Urteil über Luther und die Reformation wurde seither von Rom mehrfach wiederholt ("Dominus Iesus").

Daneben gibt es jedoch eine Reihe katholischer Theologen, die Luther als Christen, Theologen und sogar als „Vater des Glaubens" würdigen. Hermann Otto Pesch hat die Rehabilitierung Luthers gefordert. Sie anerkennen sein tiefes Verständnis der Bibel, sein Glaubensanliegen, sie gestehen ihm zu, dass er nicht böswillig gehandelt habe und räumen eine Mitschuld Roms an der Reformation ein. Gleichwohl sehen sie in seinem Ungehorsam eine Grenzüberschreitung, die er hätte vermeiden sollen. Sie halten diese allenfalls seiner „Leidenschaftlichkeit" zugute; früher sprach man auch gerne von seinem „Subjektivismus".

Das Lutherbild der Aufklärung

Einerseits findet die Aufklärung kaum einen Zugang zu Luther, vor allem nicht zum Herzstück seiner Theologie und seines Glaubens, der Rechtfertigung des Sünders allein aus Gnade. Das hängt eng mit dem optimistischen Menschenbild der Aufklärung zusammen: Der Mensch ist von Natur aus gut (Rousseau), bei entsprechender Erziehung wird sich diese gute Menschennatur harmonisch entfalten. Denn der Mensch ist fähig, seiner vernünftigen Einsicht in seinem Handeln zu folgen. Folglich verstand man Jesus vor allem als Tugendlehrer und nannte die Predigten Tugendvorträge. In dem grenzenlosen Optimismus bezüglich des Menschen hatte man kein Verständnis für Luthers Sündenerkenntnis und ebenso wenig für die Antwort des Glaubens, der sie überwand. Da der Mensch nicht als Sünder gesehen wurde, bedurfte es auch keiner Erlösung, und schon gar nicht „ohne des Gesetzes Werke".

Andererseits berief man sich in der Aufklärung doch auch positiv auf Luther: Er galt als der Begründer der Neuzeit. Man bejahte ihn in seiner Kritik an Rom, an der spätmittelalterlichen Kirche, sah in ihm den Überwinder des finsteren Mittelalters, seiner Enge und Dogmengläubigkeit. „Aus der Kirchen ehrwürd'ger Nacht sind sie alle ans Licht gebracht", so fühlte man sich und das meinte man Luther zu verdanken. Er galt als der Verkünder der Freiheit des Menschen – so verstand man die „Freiheit eines Christenmenschen" –, der Freiheit des Geistes, des Gewissens und Denkens und damit sah man ihn als den eigentlichen geistigen Vater der Aufklärung. Was die römische Kirche ihm vorwarf, das wurde jetzt umgekehrt positiv bewertet. Man glaubte sich durch Luther legitimiert, auch über Luther hinaus fortzuschreiten.

(Fotos: epd-bild/Steffen Schellhorn, Louise Seidler/Wikipedia)

Goethe ist in seiner Einstellung zu Luther und zur Reformation ein typisches Beispiel für diese ambivalente Haltung: Ganz im aufklärerischen Sinn sagt er: „Luther war ein Genie sehr bedeutender Art; er wirkt nun schon manchen guten Tag und die Zahl der Tage, wo er in fernen Jahrhunderten aufhören wird produktiv zu sein, ist nicht abzusehen." – „Wir wissen gar nicht, was wir Luther und der Reformation im Allgemeinen alles zu danken haben. Wir sind frei geworden von den Fesseln geistiger Borniertheit, wir sind in Folge unserer fortwachsenden Kultur fähig geworden, zur Quelle zurückzukehren und das Christentum in seiner Reinheit zu fassen. Wir haben wieder den Mut, mit festen Füßen auf Gottes Erde zu stehen und uns in unserer gottbegabten Menschennatur zu fühlen. Mag die geistige Kultur nun immer fortschreiten (...) und der menschliche Geist sich erweitern, wie er will, – über die Hoheit und die sittliche Kultur des Christentums, wie es in den Evangelien schimmert und leuchtet, wird er nicht hinauskommen".

Doch sein Ja gilt vorwiegend der Person Luthers, nicht seinem Glauben. Hiervon distanziert sich Goethe sehr kühl und deutlich: „Unter uns gesagt, ist an der ganzen Sache (der Reformation) nichts interessant als Luthers Charakter, und es ist auch das Einzige, was einer Menge wirklich imponiert. Alles Übrige ist ein verworrener Quark, wie er uns noch täglich zur Last fällt."

Zweifellos gingen von Luther viele Anstöße in Richtung Aufklärung aus. Insofern wird Luther hier ein Stück weit zu Recht als geistiger Vater in Anspruch genommen. Diese Verwandtschaft hat Gotthold Ephraim Lessing gespürt und ausgesprochen. Aber nun geschah das doch mit einer deutlichen Akzentverschiebung und Verzeichnung Luthers. Diesem Lutherbild gegenüber ist festzustellen und festzuhalten, dass Luther tatsächlich viel katholischer, frömmer, kirchlicher, mittelalterlicher gewesen ist, als die Aufklärung meinte. Die Aufklärung liefert uns mit ihrem Lutherbild ein besonders deutliches Beispiel für die Übertragung der eigenen Vorstellungen auf eine Gestalt der Vergangenheit.

Den zweiten Teil finden Sie hier.


Dieser Beitrag erschien zuerst im „Sonntagsblatt", der Wochenzeitung der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern, Ausgaben 29 + 30/2008 (20./27. Juli 2008).

Buchhinweis Hanns Leiner: Luthers Theologie für Nichttheologen, Nürnberg 2007. Verlag für Theologie und Religionswissenschaft, 410 Seiten, 29,80 Euro.