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Markus Dröge: Empirische Erkenntnisse theologisch reflektieren

Gewissen und Zivilcourage stärken

Markus Dröge ist Bischof der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz (Bild: epd-bild)

O b es historisch wahrscheinlich ist, dass die 95 Thesen Martin Luthers an die Tür der Schlosskirche zu Wittenberg geschlagen wurden, ist für meinen persönlichen Zugang zur Reformation unwesentlich. Etwas anderes bewegt mich an diesem epochemachenden Text: Die innere Motivation, die den Augustinermönch getrieben hat, diese Thesen zu verfassen. Als Seelsorger und Theologe hatte er in vertraulichen Beichtgesprächen erfahren, welche seelischen Belastungen und Gewissensqualen der damalige Missbrauch der Buße bewirkte. Buße soll Menschen befreien. Wenn die Bußpraxis der Kirche aber den weltlichen Interessen der Regierenden dienen muss, wird sie zum Instrument der Unterdrückung.

Nach dem Gewissen gehandelt

Luther reflektierte die Buße neu und setzte sich auseinander mit der Ablassinstruktion des Albrecht von Brandenburg, Erzbischof und Kurfürst von Mainz. Dieser hatte einen Jubelablass für den Neubau der Peterskirche in Rom ausgerufen, behielt aber einen beträchtlichen Teil der Einnahmen ein, um seine Schulden beim Bankhaus Fugger zu begleichen. Luther stellte das Ergebnis seiner Analyse dann in Thesenform zur Disputation. Wo immer er sie angeschlagen hat, allein wichtig ist die Tatsache, dass sie tatsächlich wissenschaftlich diskutiert wurden. So bezeugt es ein Gutachten der Wittenberger Universität vom Dezember 1517. Politisch brisant war, dass Luther die Thesen am 31. Oktober 1517 zusätzlich an Albrecht von Mainz schickte, wohl wissend, dass sie dessen Ablassinstruktion deutlich widersprachen.

Ein unbekannter Dozent in der Provinz tut, was sein Gewissen ihm aufträgt, um der Menschen willen, deren Bedrückung er erkannt hat – das ist der Punkt, an dem ich meinen Zugang zur Reformation gefunden habe. Diese „Methode“ Luthers, empirische Erkenntnisse theologisch zu reflektieren und dann in die gesellschaftliche Öffentlichkeit hinein auf Veränderung zu drängen, ist für mich vorbildhaft. Bis heute gehört es zum geistlichen Auftrag, nach dieser Maxime zu handeln. „Tretet vor Gott und vor den Menschen für alle ein, die euren Beistand brauchen“. Dieses Versprechen legen evangelische Pfarrerinnen und Pfarrer bei ihrer Ordination ab. Luthers 95 Thesen zeigen, welche immensen Auswirkungen es haben kann, wenn auch nur einer den Mut hat, das zu sagen, was Sache ist – so wie das Kind im Märchen „Des Kaisers neue Kleider“. 

Reformationsjubiläum gesamtgesellschaftlich gestalten

Natürlich war diese Zivilcourage nicht nur Martin Luther zu eigen. Die reformatorische Bewegung hat viele mutige Bekenner hervorgebracht. Und die Freiheit des Gewissens ist auch nicht ein christliches Privileg. Menschen aller Weltanschauungen, die einem ethisch gebundenen Gewissen folgen, haben diese „Methode“ immer wieder angewandt. Heute sind es in vielen Weltgegenden Menschenrechtsaktivisten, die unerschrocken und unbestechlich der Wahrheit die Ehre geben.

Obwohl die Reformation nicht die einzige Traditionsquelle heutiger Gewissensfreiheit und Zivilcourage ist, haben wir im Jahr 2017 guten Grund das Jubiläum gesamtgesellschaftlich zu begehen. Es gilt kritisch zu würdigen, welche Wellen und Wirkungen von der Reformation ausgegangen sind. Die „Methode“ Luthers ist dabei selbstverständlich auch gegen ihn selbst anzuwenden: Wir haben zu analysieren, wo die Reformation nicht nur Segen gebracht hat, wo Luthers Denken, Reden und Tun menschenverachtende und menschenzerstörende Wirkungen gezeitigt hat; am gravierendsten in seinen unsäglichen Aussagen über das Judentum. Wir haben Freiheit und Menschenwürde auch gegen Luther selbst zu verteidigen. Gerade darin wird sich die Botschaft der Reformation zu bewähren haben.

Gemeinsames Nachdenken über Grundlagen der Gesellschaft 

Mein Zugang zur Reformation führt mich konsequenterweise dazu, die Feier des Reformationsjubiläums nicht nur als Aufgabe und Herausforderung für evangelische Christinnen und Christen zu sehen. Wir brauchen 2017 keine Protestantenparty. Wir brauchen ein vertieftes Nachdenken über Gewissensfreiheit und Menschenwürde als Grundlage unserer Gesellschaft. Dies an der Reformation festzumachen, ist manchem nicht auf den ersten Blick einsichtig. Zugespitzt hat der Abgeordnete Wolfgang Brauer von der Fraktion der Linken am 25. Juni 2015 im Abgeordnetenhaus von Berlin die Frage in der Debatte um einen bundesweiten, einmaligen, gesetzlichen Feiertag am 31. Oktober 2017 gestellt: „Weshalb sollen Muslime das Reformationsjubiläum in einem angemessenen Rahmen begehen? Das ist mir irgendwie schleierhaft, wenn nicht gleichzeitig zumindest das Zuckerfest als gesetzlicher Feiertag in Berlin eingeführt wird. Dasselbe trifft für die Anhänger der mosaischen Religion, Hindus, Feueranbeter und was es sonst nicht alles noch gibt, zu […].“ (Protokoll des Abgeordnetenhauses von Berlin, 17. Wahlperiode, Plenarprotokoll 17/67, S. 6890).

So klingt es, wenn alles, was irgendwie Religion ist, ohne Beachtung der Inhalte in einen Topf geworfen wird. Bei ernsthafter Betrachtung aber dürfte es keinem, gleich welcher Religion oder Weltanschauung, schwerfallen, die Chance des Reformationsjubiläums zu erkennen, um Gewissensfreiheit und Zivilcourage stark zu machen. Auch ein Feueranbeter tut gut daran, sich eine der wesentlichen Traditionen bewusst zu machen, die das Wertesystem unserer freiheitlichen Gesellschaft trägt.


Der Text erschien zum ersten Mal in Politik & Kultur 06/2015. Markus Dröge ist Bischof der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz. 

Informationen

Autor:Markus Dröge Quelle:Deutscher Kulturrat Datum:22-01-16
Schlagworte:
Luther 2017-Kolumne, Deutscher Kulturrat, Markus Dröge, Reformation, 95 Thesen,

Kolumnen des Deutschen Kulturrats

Der Deutsche Kulturrat veröffentlicht in „Politik & Kultur“ regelmäßig eine Kolumne zum Reformationsjubiläum 2017.

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