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Drang nach Freiheit

Gundula Gause
Gundula Gause (Copyright: Jürgen M. Pietsch)

Als Nachrichtenmoderatorin orientiere ich mich an aktuellen Ereignissen. Ich wähle die Meldungen aus und recherchiere Hintergründe, ringe beim Schreiben um jedes Wort und präsentiere am Endes des Tages interessierten Zuschauern die wichtigsten Ereignisse des Weltgeschehens. Auch 500 Jahre Reformation sind zunächst einmal eine Nachricht. Doch sie bewegt mich viel stärker als andere. Denn ich sehe, dass „Umgestaltung und Wiederherstellung“ – so die Bedeutungen des lateinischen Wortes „reformatio“ – die Gesellschaft und jeden einzelnen Menschen heute erneut herausfordern.

Augenfällig sind die gesellschaftlichen Parallelen zwischen der Zeit der Reformation und heute. Durch die Veröffentlichung der 95 Thesen und seine Übersetzung der Bibel läutete Martin Luther eine Zeit der „Umgestaltung“ ein. Luthers Botschaften verbreiteten sich durch Johannes Gutenbergs Erfindung des Buchdrucks schnell. Heute sind es die Mega-Trends der Digitalisierung und Globalisierung, die die Welt umgestalten und zu einer Zeitenwende führen. Vor 500 Jahren ebenso wie heute dienen neue Medien als Kanäle, als Transmissionsriemen gesellschaftlicher Veränderungen.

Hinzu kommt die individuelle, persönliche Perspektive. Als katholisch verheiratete Protestantin in Deutschland verbinde ich mit dem Reformationsjubiläum die Hoffnung, dass  „Wiederherstellung“ – so die zweite Bedeutung von „reformatio“ – “ in Kirche und Gesellschaft weitergehen. 

Martin Luther ging es darum, die katholische Kirche „wieder herzustellen“, sie zum ursprünglichen Glauben zurückzuführen, sie zu befreien von Prunksucht, Angstmacherei und Ablasshandel. Als Mönch wollte er keine neue Kirche schaffen. Es waren andere Faktoren wie die Macht der Fürsten, der Aufstand der Bauern, die Veränderungen im Sozialgefüge, die zur Gründung der evangelischen Kirchen führten.

500 Jahre später hat mich die Evangelische Kirche in Deutschland gebeten, Botschafterin für das Reformationsjubiläum zu werden. Ich habe zugesagt. Ich möchte dazu beizutragen, dass Menschen neu darüber nachdenken, wie sie ihren Glauben leben und mit Freiheit umgehen. Ohne Engagement für den Nächsten, ohne die Hoffnung auf ein Leben nach dem Tod – wie auch immer das ausschauen mag –, ohne die christliche Gemeinschaft möchte ich nicht leben. Ich möchte auch in der digitalen Welt nicht auf Freiheit verzichten, meine Meinung frei äußern dürfen und meine Daten vor Missbrauch geschützt sehen. Ich will ohne Bedrohung in einer freien und selbstbewussten Gesellschaft leben, in der Grundrechte ebenso wie die Freiheit des Anderen geachtet werden und Toleranz – auch in religiöser Hinsicht – als unabdingbarer Maßstab des Handelns gilt.  

Die gesellschaftliche Umgestaltung dieser Zeit wird durch die Digitalisierung angetrieben, notwendig bleibt das individuelle Bemühen um „Wiederherstellung“. Luther wollte dies in den Koordinaten seiner Zeit. Wir sollten seinen Glauben an das Wort, seinen Drang nach Freiheit und sein Streben nach einem Leben ohne Zwang auf unser Leben in dieser Zeit der Digitalisierung und Globalisierung übertragen, das viele als immer komplexer und komplizierter empfinden. 

Wiederherstellen kann man auch menschliche Kontakte, die durch den Medienkonsum weniger werden. Wiederherstellen könnte man – ein langer Weg – die Einheit der christlichen Kirche. Und wiederherstellen sollten wir Christen – immer wieder – Bedingungen für ein Leben in Frieden und Freiheit, so wie es sich Millionen von Menschen wünschen, die auf der Flucht sind. 


Gundula Gause zählt zu den bekanntesten Gesichtern des deutschen Fernsehens. Sie studierte Französisch in Paris sowie Politikwissenschaften, Geschichte und Publizistik in Mainz. Seit 1993 ist sie Co-Moderatorin des ZDF-„heute-journals“. 

Informationen

Autor:Gundula Gause Datum:20-06-16
Schlagworte:
Gundula Gause, Freiheit, Standpunkt, 500 Jahre Reformation,

Standpunkte

In dieser Kategorie legen Personen des öffentlichen Lebens ihre „Standpunkte“ für 2017 und der Lutherdekade dar.

Mündigkeit & Freiheit

Freiheit war ein zentraler Begriff in Martin Luthers Glauben, Handeln und seiner Haltung. Am deutlichsten wird dies in seiner Schrift „Von der Freiheit eines Christenmenschen“.

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Drucksache Reformation: Der Thesenanschlag war zugleich der Auftakt einer Medienrevolution. Was als einzelner öffentlicher Aushang begann, wurde zur Flugblattwelle, zum Bücherboom, zur Bilderflut.