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One, but not the same – Reformation aus anglikanischer Perspektive

Manchmal frage ich mich, ob die Anglikanische Kirchengemeinschaft nicht vor allem dafür entstanden ist, um bei den übrigen Kirchen dieser Welt für Verwirrung zu sorgen. Die Reformation in Europa teilte den Kontinent bekanntlich in zwei konfessionelle Bereiche, die wir heute als Protestantismus und als römischen Katholizismus kennen. Im Rückblick sieht es so aus, als hätten sich die Engländer damals nicht so recht zwischen beiden entscheiden können, denn die Kirche von England wurde – ihrem Selbstverständnis nach – eine „reformierte katholische Kirche“; sie war also immer noch katholisch, aber eben reformiert. War das die Verbindung des Besten aus beiden Welten?

(Bild: TheAndrasBarta / pixabay)

Kontinentale und englische Kirche

Seit ich mich 2006 bereit erklärt habe, Co-Vorsitzender der Meißen Kommission zu sein (sie führt seit 1988 die Kirche von England und die Evangelische Kirche in Deutschland näher zusammen), habe ich häufig mit augenzwinkerndem Vergnügen zu erklären versucht, was für ein merkwürdiges Geschöpf die Kirche von England doch ist. Lassen wir einmal die vorreformatorisch getrennten Wege von orthodoxer und katholischer Kirche beiseite, dann gibt es auf dem europäischen Festland heute vor allem zwei Kirchenfamilien: Entweder ist man evangelisch oder eben katholisch. 

In England funktioniert das so nicht: Anglikanisch zu sein bedeutet immer, sowohl evangelisch als auch katholisch zu sein. Daher sind die Engländer beim Begriff „Reformation“ auch manchmal ein wenig verwirrt, und man muss ihnen genauer sagen, was man meint: zum Beispiel „die deutsche Reformation“. Die Reformation in England wurde durch die politischen Bedürfnisse eines Königs geformt und durch Menschen, die ihr Leben für die Sache der Bibel und für das Recht, sie selbst lesen zu können, aufs Spiel setzten. Dies beförderte natürlich, dass einfache Leute lesen lernten, vor allem Bibeltexte. Dadurch wurde die Macht der Kirche, Gottes Geheimnisse zu verwalten, gebrochen, und Menschen wurden dazu befreit, Gottes Gnade in eigener Verantwortung zu erkennen.

Kathedrale von Canterbury
Die Kathedrale von Canterbury (Bild: Hans Musil / Wikimedia)

Eine Kirche, die Brüche toleriert 

Im Grunde genommen ist es genau dies, was die protestantische Reformation in Europa vor fünfhundert Jahren ausmachte: Die Gnade Gottes, wirksam durch den Glauben, veränderte das Leben und Sterben eines Menschen und damit die Welt. Macht wurde infrage gestellt und die Bibel allen zugänglich. Jedoch, dieser entschlossene Wille, die Kirche aufzubrechen, brachte in gewissem Sinne auch eine Kirche hervor, die Brüche tolerierte – häufig genau an solchen Fragen, wie die Bibel zu lesen und zu verstehen sei. Dies hat dazu geführt, dass es heute unmöglich ist, die Zahl der verschiedenen protestantischen Denominationen weltweit zu zählen. Sogar Einzelne fühlen sich in der Lage, ihre eigenen „kirchenähnlichen Gemeinschaften“ zu gründen, so wie die römisch-katholische Kirche die Kirchen der Reformation, also auch die Kirche von England, bezeichnet hat. Die Reformation an sich war nie einfarbig, sondern bunt: Calvin, Zwingli, Luther und viele andere wussten genau, was sie voneinander trennte, und tolerante Nachsicht füreinander war weder im 16. Jahrhundert noch ist sie – global betrachtet – heute allzu weit verbreitet.

Was also ist zu sagen über den Protestantismus, wie er heute weltweit existiert? Nun, er bietet der Welt ein weites Spektrum an theologischen und kirchlichen Kulturen und Besonderheiten. Er ermöglicht eine große Vielfalt gottesdienstlicher Ausdrucksformen, biblischer Fokussierungen und Auslegungen; er befähigt zu prophetischen Äußerungen im öffentlichen Leben und nicht zuletzt zu Engagement für die soziale und politische Ordnung dieser Welt.

Herausforderung und Chance für die Kirchen Europas

Die aus meiner Sicht interessanteste Entwicklung der letzten Jahre ist, dass der Lutherische Weltbund sich entschieden hat, sich „Gemeinschaft“ (communion) zu nennen – analog zur weltweiten Anglikanischen Gemeinschaft. Es gibt einen deutlichen Unterschied zwischen einerseits einem Bund (federation), der mit gemeinsamer Interessenswahrnehmung und dem Gemeinwesen zu tun hat, und andererseits einer Gemeinschaft (communion), die auf theologische und kirchliche Identität ausgerichtet ist. Vielleicht liegt darin ein Beweis dafür, dass die Tendenz der protestantischen Kirchen in der Vergangenheit, sich aufzusplittern, inzwischen wegen immer kleiner werdender theologischer Unterschiede als destruktiv erkannt wird, nicht zuletzt angesichts einer zunehmend friedloseren Welt, die unsere ganze Aufmerksamkeit benötigt. (In diesem Zusammenhang sei erwähnt, dass auch die GEKE, die „Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa“ bei uns als „Communion of Protestant Churches in Europe“ ins Englische übersetzt wird.)

Heinrich VIII von England
Heinrich VIII von England führte aus politischen Gründen die Reformation ein (Bild: Wikimedia)

Hier liegen sowohl Herausforderung als auch Chance, insbesondere für die Kirchen in Europa. Als ich mich bereit erklärte, den anglikanischen Co-Vorsitz der Meißen Kommission zu übernehmen, war dies mit der klaren Zielvorstellung verbunden, unsere vereinte Aufmerksamkeit auf die gemeinsame missionarische Agenda für Europa zu richten. Unsere kirchliche Zukunft und Einheit liegt nach meiner Überzeugung darin, Europa an seine christlichen Wurzeln und seine christliche Prägung zu erinnern und zugleich in unseren jeweils unterschiedlichen Gesellschaften für die Förderung des Gemeinwohls einzutreten.

Jede und jeder Geistliche in der Kirche von England verspricht vor dem Bischof seiner Diözese, die Gute Nachricht von Jesus Christus „jeder Generation von Neuem zu verkündigen“. Unsere gemeinsame ökumenische Aufgabe ist es, uns dabei – ob wir nun Geistliche sind oder als Nichttheologen in unseren Kirchen aktiv sind – gegenseitig nach Kräften zu unterstützen: vertrauensvoll, kreativ, wagemutig und mit viel Enthusiasmus.


Nicholas Baines
Nicholas Baines
(Bild: Friedrich Stark / epd-bild)

Nicholas Baines ist Bischof von Leeds in der Kirche von England und Co-Vorsitzender der Meißen Kommission.

Der Text ist erschienen im EKD-Magazin „Reformation und die Eine Welt“ und wurde luther2017.de mit freundlicher Genehmigung des Autors und der EKD zu Verfügung gestellt. Das Magazin (DIN A 4) gibt es als PDF-Download oder kostenlos beim Kirchenamt der EKD (Bestelladresse: Herrenhäuser Str. 12, 30419 Hannover, E-Mail: jessica.jaworski@ekd.de). Weitere Texte zum Themenjahr „Reformation und die Eine Welt" sowie Materialien zum Download finden sich unter www.reformation-und-die-eine-welt.de/das-themenjahr/

 

Informationen

Autor:Nicholas Baines Quelle:EKD Datum:28-06-16

Notizen aus der Einen Welt

Das Reformationsjubiläum ist kein nationales, deutsches oder gar lokal begrenztes Ereignis. Die Reformation ist durch die Jahrhunderte zur „Weltbürgerin“ geworden. In vielen Regionen und Ländern auf allen Kontinenten haben sich reformatorische Gedanken ausgebreitet und reformatorische Ideen dargestellt.

Themenjahr 2016

Am Vorabend des Reformationsjubiläums werden die globalen Prägekräfte im Mittelpunkt stehen.